zum Hauptinhalt
Vor der Botschaft Saudi-Arabiens in Washington zeigt sich ein Demonstrant als Mohammed bin Salman mit blutverschmierten Händen.
© Jim Watson/AFP
Update

Verschwundener Saudi-Kritiker: Der Fall Dschemal Kaschoggi oder die Horrorgeschichte von Istanbul

Es gibt immer mehr Details über die angebliche Ermordung des saudischen Regimekritikers Dschemal Kaschoggi – mit dem Fall wachsen auch die Zweifel am Kronprinzen.

Hohe Polizeigitter versperren die Akazien-Straße vor der zweistöckigen Villa im Istanbuler Geschäftsviertel Levent. Hinter einer Mauer mit Stacheldraht und unter dem bleigrauen Herbsthimmel wirkt das Konsulat von Saudi-Arabien wie eine Festung. Die schwere Metalltür mit gekreuzten Schwertern darauf ist verschlossen. Mehrere Autos mit diplomatischen Kennzeichen stehen davor, auch ein schwarzer Kleinbus ist darunter. Ein solches Fahrzeug spielt eine Rolle in der grausigen Geschichte, die sich hier, im Istanbuler „Horror-Haus“, abgespielt haben soll. Diese Geschichte könnte über das Schicksal der saudischen Reformpolitik entscheiden.

Die Vorhänge im gelb gestrichenen Konsulatsgebäude sind zugezogen, doch offiziell ist die Vertretung geöffnet und vergibt weiter Termine für Visa. Nur mit der Ruhe in der Akazien-Straße ist es vorbei. „Seit ein paar Tagen ist hier große Aufregung“, sagt Esra, die Kassiererin eines Supermarkts gegenüber der Vertretung. Kamerateams warten vor dem Konsulat. Die türkische Polizei hat das Gelände ebenfalls im Visier.

Am 2. Oktober kurz nach Mittag soll in der Villa der regimekritische saudische Journalist Dschemal Kaschoggi ermordet worden sein. Türkische Überwachungskameras haben den Moment eingefangen, in dem Kaschoggi ins Konsulat geht – seitdem fehlt von ihm jede Spur.

Immer mehr Ermittlungsergebnisse der türkischen Polizei werden publik

Die türkische Polizei ist sicher, dass Kaschoggi von einem Killerkommando aus Saudi-Arabien getötet worden ist – was die saudische Regierung bestreitet. Fest steht, dass ein 15 Mann starkes Team aus Riad am Tag von Kaschoggis Verschwinden in Istanbul eintraf und das Land noch am Abend wieder verließ.

Unter den Männern waren türkischen Presseberichten zufolge zwei Leibwächter des saudischen Thronfolgers Mohammed bin Salman sowie ein führender Forensiker aus Saudi-Arabien: Möglicherweise sei Kaschoggis Leiche mit einer eigens aus Riad mitgebrachten Knochensäge zerteilt und im diplomatischen Gepäck nach Saudi-Arabien gebracht worden, spekulieren die Zeitungen.

Tröpfchenweise dringen die Ermittlungsergebnisse der türkischen Polizei an die Öffentlichkeit. Bilder des angeblichen Killerteams gehören ebenso dazu wie die Fahrtrouten der Männer in Istanbul. Sie waren unter anderem mit dem schwarzen Kleinbus unterwegs. Selbst das Abwasser aus dem Konsulat werde auf Blutspuren hin untersucht. Brutal wie im Thriller „Pulp Fiction“ sei es beim Mord an Kaschoggi zugegangen, lässt sich ein Ermittler zitieren.

Einem Medienbericht zufolge soll die Türkei über Filmaufnahmen vom Mord an Kaschoggi verfügen. Die türkische Regierung habe US-Vertretern über solche Aufnahmen berichtet, schrieb die US-Zeitung "Washington Post" am Donnerstag. Die Ton- und Videoaufnahmen würden zeigen, dass der Journalist in dem Konsulat verhört, gefoltert und ermordet worden sei. Sein Körper sei anschließend zerlegt worden.

Nach Informationen der Zeitung scheut die türkische Seite eine Veröffentlichung der Aufnahmen, um nicht zu offenbaren, wie Einrichtungen ausländischer Staaten in der Türkei ausspioniert werden. 

Das Konsulat in Istanbul soll bald von türkischen Spezialisten durchsucht werden. Schon vergangene Woche hatte Kronprinz Mohammed dieses Angebot angekündigt, um zu beweisen, dass seine Regierung nichts mit Kaschoggis Verschwinden zu tun hat. Doch bisher lässt die saudische Erlaubnis für die Durchsuchung auf sich warten.

Türkische Regierung verschärft Ton gegen Riad

Kaschoggis Apple-Armbanduhr, die er beim Besuch im Konsulat trug, könnte wichtige Hinweise geben. Ermittler wollen Medienberichten zufolge herausfinden, wie lange und von welchem genauen Ort die Uhr ihre Signale an Kaschoggis Handy gefunkt hat, das er seiner vor der Tür wartenden türkischen Verlobten Hatice Cengiz gegeben hatte. Die Uhr kann auch die Herzfrequenz des Nutzers aufzeichnen.

Die türkische Staatsspitze verschärfte in dem Fall zunächst langsam ihren Ton. Sein Land werde bei der Angelegenheit nicht schweigend zuschauen, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan. Obwohl Riad behaupte, Kaschoggi habe das Konsulat wohlbehalten wieder verlassen, habe keine der vielen Überwachungskameras am Konsulat ihn gefilmt, kritisierte der Präsident: „Selbst eine Mücke“ komme nicht ungesehen aus dem Gebäude. Am Donnerstagabend kamen dann versöhnlichere Töne. Die Türkei und Saudi-Arabien wollten in dem Fall gemeinsam ermitteln. Man werde den Fall „in all seinen Facetten“ in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe beleuchten und aufklären, sagte der türkische Präsidentensprecher Ibrahim Kalin der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am Donnerstagabend.

Für die Türkei geht es bei der Aufklärung des mutmaßlichen Verbrechens auch um das eigene Ansehen. Kaschoggi soll von der saudischen Botschaft in Washington nach Istanbul geschickt worden sein, um Dokumente für seine geplante Hochzeit mit Cengiz abzuholen: Die Saudis hätten es nicht gewagt, Kaschoggi in den USA zu töten, in der Türkei aber offenbar kein Problem darin gesehen, lautet der türkische Verdacht.

Fall Kaschoggi lässt Kronprinzen als orientalischen Despoten erscheinen

Erdogan will nicht nur den Druck auf die Saudis erhöhen, sondern auch erreichen, dass westliche Staaten, und allen vor die USA, eindeutig Stellung gegen Riad beziehen. Damit wird das Istanbuler „Horror-Haus“ zu einem ernsten Problem für Kronprinz bin Salman, der Saudi-Arabien mit einem ehrgeizigen Umbauprogramm in die Moderne führen will. Mit der Verhaftung von Frauenrechtlerinnen hatte der Prinz in den vergangenen Monaten bereits demonstriert, dass er kein Reformer im westlichen Sinne ist. Der Fall Kaschoggi lässt ihn erst recht als orientalischen Despoten erscheinen.

Kaschoggi hatte sich in den USA offenbar so sicher gefühlt, dass er regelmäßig die Politik des saudischen Kronprinzen in der „Washington Post“ kritisierte. Aber ihn letzter Zeit war ihm offenbar mulmig geworden. So sagte er dem Magazin „New Yorker“ im August, natürlich würde sich die neue saudische Führung wünschen, dass er von der Bildfläche verschwände. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich bereits ein Jahr lang im US-Exil und blickte mit zunehmender Sorge auf die Veränderungen in seiner Heimat, die mit bin Salman einhergingen.

Trumps Nahostberater Kushner soll auf bin Salman gesetzt haben

Wie der Journalist Bob Woodward in seinem Buch „Fear“ beschreibt, sah das außen- und sicherheitspolitische Establishment in Washington den heute 33-jährigen bin Salman eigentlich als ungeeignet für die Thronfolge an, als jemand, der die Spannungen verschärfen könnte. Sie präferierten den 16 Jahre älteren Mohammed bin Nayef. Aber der Schwiegersohn von Donald Trump, sein Nahostberater Jared Kushner, soll früh auf bin Salman gesetzt haben, der dann auch bin Nayef verdrängte.

Von diesem versprach er sich vor allem eine israelfreundliche Politik. Auf seinen Rat hin besuchte Trump bei seiner ersten Auslandsreise Saudi-Arabien und Israel, zudem wurde Kronprinz Mohammed bin Salman ins Weiße Haus eingeladen. Auch der Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran, dem saudischen Erzfeind, machte klar, auf welche Macht in der Region Washington künftig setzen wollte.

Nun wächst der Druck auf Trump und Kushner, im Fall des verschwundenen Kaschoggi zu handeln. 22 US-Senatoren fordern den Präsidenten in einem Brief auf, die Angelegenheit untersuchen zu lassen, notfalls bis in die hochrangigsten Regierungskreise hinein. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im US-Senat hat Saudi-Arabien mit Sanktionen gedroht. Sollte das Königreich hinter dem Verschwinden stecken, müssten Strafmaßnahmen gegen die höchste Ebene der saudiarabischen Regierung verhängt werden, sagte der Republikaner Bob Corker am Donnerstag. Der US-Kongress werde kein Waffengeschäft an Saudi-Arabien mehr passieren lassen.

USA fordern mehr Informationen von den Saudis

Einem Gesetz zufolge, auf das sich die Senatoren beider großen Parteien berufen, muss Washington binnen 120 Tagen entscheiden, ob Sanktionen wegen ernsthafter Verletzungen der Menschenrechte verhängt werden. Das Verschwinden Kaschoggis lasse darauf schließen.

Trump hatte da seinen Ton gegenüber Riad bereits verschärft und Antworten im Fall Kaschoggi verlangt. Das Weiße Haus teilte mit, dass Kushner und Trumps Sicherheitsberater John Bolton mit bin Salman darüber gesprochen hätten, genauso wie Außenminister Mike Pompeo. Alle drei forderten demnach mehr Details von der saudischen Regierung und riefen sie dazu auf, sich bei den Ermittlungen transparent zu verhalten.

Zur Startseite