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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der russische Präsident Wladimir Putin bei einem Treffen 2017
© Bernd von Jutrczenka/dpa

Rückblickend zweifelhafte Russland-Politik: Der Bundespräsident sollte sein eigenes Tun infrage stellen

Warum hat die deutsche Politik Russlands Präsidenten Putin so lange vertraut? Wenn einer den Weg zu Antworten eröffnen kann, dann Steinmeier. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Der Melnyk-Vorfall, um es mal so zu nennen, ist keine Staatsaffäre. Die Auseinandersetzung des ukrainischen Botschafters mit dem Bundespräsidenten über die Frage, ob der ein Benefizkonzert „nur mit russischen Solisten“ veranstaltet habe, ist nicht das Wesentliche.

Dahinter wartet vielmehr eine andere, viel größere Frage, und die ist eine wirkliche Staatsangelegenheit, sie geht uns alle an und deshalb auch unser Staatsoberhaupt: Woran liegt es, dass die Politik, getragen von der Mehrheit, einem wie Wladimir Putin so lange vertrauen wollte, und was folgt daraus?

Die Antwort hat zwei Ebenen, mindestens. Und wenn einer den Weg zu Antworten eröffnen kann, dann der, der wie nur Wenige in den zurückliegenden Jahrzehnten sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik mitgestaltet, ja mitbestimmt hat: Frank-Walter Steinmeier.

Kanzleramtschef unter Gerhard Schröder zu Zeiten von Nord Stream I, Außenminister zu Zeiten, als mit Russland und der Ukraine Minsk I und Minsk II verhandelt wurde, der das Normandie-Format für die Verhandlungen ursprünglich erfunden hat und die russischen Führungsfiguren nahezu aus dem Effeff kennt.

Kurz: Aus staatspolitischer Verantwortung erwächst Verpflichtung. Hier gehen Funktion und Person zusammen.

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Der Bundespräsident hat sich ja nun für seine zweite Amtszeit vorgenommen, eine Brücke zu den Bürgern zu bauen, in die Breite der Gesellschaft hineinzuwirken. Das passt schon einmal. Der Satz aus der Corona-Zeit „Geben wir aufeinander acht“ kann eine intellektuell erweiterte Bedeutung erfahren.

Denn dazu gehört auch, sich in einer völlig veränderten Welt vorzunehmen, Maßstäbe für die Rolle Deutschlands im Kampf der Kräfte zu definieren. In dieser Zeitenwende, einem Zeitenbruch, einer epochalen Veränderung. Und zwar in dem, was Willy Brandt schon das „große Gespräch der Gesellschaft“ nannte, mit Experten, aber eben nicht nur, sondern auch den Bürgern.

Zusammenarbeit mit Autokraten wird erklärungsbedürftiger

Putin fordert uns doch dazu heraus. Denn auf der Basis wertegeleiteter Außenpolitik, die die Bundesregierung explizit machen will, wird Zusammenarbeit mit Autokraten umso erklärungsbedürftiger. Es kann zum Beispiel gut sein, dass sich die Gesellschaft in Verzicht wird üben müssen.

Auch die Vorstellungen vom „Wandel durch Handel“ und „Wandel durch Annäherung“ sind, was ihre Erfolge angeht, überholungsbedürftig. Es geht also um Maßstäbe, die halten, gerade in diesen Zeiten und für das, was da sonst noch alles kommt. Putin ist so gesehen nur eine Chiffre. Die kann bald auch Xi Jinping heißen, und zwar für die Neuvermessung des Verhältnisses zum autokratischen China.

Deutschland, als zweitgrößter Geldgeber der Vereinten Nationen, als einer der größten Truppensteller der Nato und als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, ist von der Spitze angefangen herausgefordert. Was uns historische Verantwortung wert sei, hat der ukrainische Präsident im Bundestag gefragt. Dieser Teil der Antwort ist klar: Aus Verantwortung wird Verpflichtung – auch die Pflicht zur Selbstvergewisserung, die nicht zuletzt.

Der Bundespräsident kann es, nein, sollte es in seiner Funktion als „Integrationsagentur des Staates“ vormachen. Integrativ wirkt, wer Fragen stellt und eigenes Tun rückblickend infrage stellt; das hilft beim Vorausblick. Aus Orientierung entsteht Ethos. Deutschland braucht Mut zu beidem.

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