EU-Parlamentspräsident Martin Schulz: "Der Brexit wäre ein Akt der Unvernunft"
Vor dem Referendum in Großbritannien warnt EU-Parlamentspräsident Martin Schulz die Anhänger des Brexit-Lagers vor den Folgen eines EU-Austritts.
Herr Schulz, gibt es britische Europaabgeordnete, die Sie im Fall eines Brexit vermissen würden?
Mit Sicherheit eine ganze Menge – zum Beispiel meine Kollegen von der Labour Party.
Wen würden Sie nicht vermissen?
Die Leute von der Ukip. Deren Chef Nigel Farage ist derjenige, der eigentlich als Erster gehen müsste, wenn das Vereinigte Königreich austräte. Schließlich hätte er ja dann sein Ziel erreicht. Eigentlich müsste er im Fall eines Brexit sein Mandat sofort niederlegen. Dies läge zumindest in der Logik seiner Forderungen.
Sie sind im Dreiländereck zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden aufgewachsen. Was verbinden Sie eigentlich persönlich mit Großbritannien?
Die Bewunderung für eine große Kulturnation. Ich bin Buchhändler von Beruf. Wer sich mit der europäischen Literatur auseinandersetzt, der kommt von den Canterbury Tales über Shakespeare bis zu Charles Dickens oder den modernen englischen Autoren relativ schnell zu der Erkenntnis, dass unsere kontinentale Kultur viel stärker von Briten mitgeprägt wurde, als uns das vielleicht bewusst ist. Zu den geschichtlichen Verbindungen gehört auch, dass die industrielle Revolution aus den britischen Industriezentren über Belgien zuerst in der Stahl- und Kohleindustrie im rheinischen Kohlerevier angekommen ist.
Hierzulande betrachten viele nicht Frankreich, sondern Großbritannien als so etwas wie ihre heimliche politische Liebe, weil das Königreich ähnlich wie Deutschland tickt – mehr Markt und weniger Staat. Sehen Sie das auch so?
Man sollte Großbritannien nicht in diese Schablone packen. Das Land steht sicher für eine liberale Wirtschaftsordnung, für Freihandel und mehr Wettbewerb als manches andere Land in der EU. Aber als Großbritannien noch von der Labour Party regiert wurde, stand das Land auch für mehr Investitionen in Bildung, in Infrastruktur, in das Gesundheitswesen und in internationale Entwicklungszusammenarbeit. Großbritannien hat übrigens in der Vergangenheit – auch unter konservativen Regierungen – mehr internationale Verantwortung übernommen als die meisten anderen europäischen Staaten.
Warum ist es für Großbritannien sinnvoll, in der EU zu bleiben?
Großbritannien ist ein G-7-Staat und die zweitgrößte Volkswirtschaft im europäischen Binnenmarkt. Warum? Weil die Briten den uneingeschränkten Zugang zum größten Binnenmarkt der Welt im Rahmen der Freizügigkeit von Waren, Kapitel, Dienstleistungen und Personen haben. Wenn die Briten diesen Zugang kappen oder erschweren, werden sie auf Dauer nicht mehr die zweitgrößte Volkswirtschaft in der EU und auch kein G-7-Staat mehr sein. Es wäre ein Akt der Unvernunft, wenn sich die Briten für den Brexit entscheiden würden. Wenn sich Großbritannien für den Ausstieg entscheidet, dann gilt der Grundsatz „Wer geht, geht“. Die Taktik von Boris Johnson, gegenüber den EU-Partnern nach einem Brexit auf Zeit zu spielen und eine möglichst gute Vereinbarung mit den EU-Partnern herauszuhandeln, wird nicht aufgehen. Wir erwarten, dass im Fall eines Brexit die britische Regierung die EU-Partner schnell über den Austrittswillen des britischen Volkes unterrichtet und dass ab diesem Zeitpunkt über die Modalitäten des Austritts verhandelt wird.
Angenommen, am kommenden Donnerstag stimmen 51 Prozent der Briten für einen Verbleib in der EU. Wäre dann damit zu rechnen, dass die Auseinandersetzung über Europa bei den regierenden Konservativen noch schärfer entbrennt als jetzt?
Zweifellos. Zum Referendum kam es ja aufgrund einer innerparteilichen Auseinandersetzung; insofern ist die Abstimmung ja nichts anderes als die Fortführung eines Machtkampfes innerhalb der Tories mit anderen Mitteln. Dass dafür ein ganzer Kontinent in politische Geiselhaft genommen wird, ist schon sehr bitter und sagt zugleich viel über den Zustand der britischen Konservativen aus.
Cameron hat gegenüber seinen EU-Partnern erwirkt, dass sein Land nicht mehr bei Europas „immer engeren Union“ mitmachen muss. Welche Folgen hat das?
Wir werden irgendwann eine Reform der EU-Verträge brauchen, um diese britische Ausnahme hineinzuschreiben – immer vorausgesetzt, es kommt am Donnerstag nicht zum Brexit. Die Geschichte geht aber noch weiter: Eine Änderung der EU-Verträge kann ja auch auf eine Vertiefung der Euro-Zone hinauslaufen. Großbritannien hat bereits klar gemacht, dass es sich gegen diejenigen, die in der Euro-Zone weiter vorangehen wollen, nicht sperren will.
Aber erst einmal müssten Ende 2017 die Bundestagswahlen und die französischen Präsidentschaftswahlen über die Bühne sein, bevor es zu solchen Änderungen der EU-Verträge kommt...
...es gibt in der EU immer irgendwo Wahlen. Das kann aber nichts an der Tatsache ändern, dass wir einen einheitlichen Währungsraum mit 19 Mitgliedstaaten haben. Aber gleichzeitig gibt es 19 verschiedene Politiken etwa in den Bereichen des Arbeitsmarkts, der Steuergesetzgebung und bei den Investitionen. Das ist auf Dauer nicht haltbar. Deshalb brauchen wir Reformen, um etwas am Ungleichgewicht in der Euro-Zone zu ändern und die EU demokratischer und gerechter zu machen – und zwar unabhängig von Wahlterminen.
Was schlagen Sie konkret vor?
Zunächst einmal müssen wir Dinge anpacken, die auch kurzfristig ohne eine Reform der EU-Verträge machbar sind: Die Entscheidungen in der Euro-Gruppe müssten transparenter gemacht werden, der Vorsitzende der Euro-Gruppe müsste dem Europaparlament Rechenschaft ablegen, Großkonzerne müssten da ihre Steuern zahlen, wo sie ihren Gewinn erwirtschaften. Langfristig brauchen wir aber einen Konvent, der sich Gedanken über eine EU-Vertragsänderung macht. Bei einer solchen Reform werden wir beispielsweise darüber reden müssen, ob wir wirklich 28 EU-Kommissare brauchen. Wir werden darüber reden müssen, ob der Euro-Stabilitätspakt ergänzt werden muss durch einen sozialen Stabilitätspakt, der eine Absicherung der Menschen in den Euro-Mitgliedstaaten zum Ziel hat. Es stellt sich beispielsweise auch die Frage, ob die EU-Verträge nicht an das digitale Zeitalter angepasst und der Schutz der individuellen Grundrechte gestärkt werden muss. Was ist eigentlich mit der Kreativwirtschaft, die sich im nationalen Rahmen längst nicht mehr schützen lässt? Brauchen wir dafür einen transnationalen Rahmen?
Ist ein Dominoeffekt in Staaten wie Frankreich zu befürchten, falls sich die Briten für einen EU-Austritt entscheiden sollten?
Das glaube ich nicht. Zwar werden sich die Populisten dieser Erde, die die globalen Entwicklungen mit dem Rückzug in den Nationalstaat bewältigen wollen, vom Ausgang des EU-Referendums nicht beeindrucken lassen. Entscheidend wird aber sein, wie mutig wir uns ihnen in den Weg stellen. Wenn wir die Ungleichgewichte zwischen den EU-Staaten nicht schleunigst beseitigen, dann werden die Populisten weiter Hochkonjunktur haben.