EU-Austritt: Der Brexit kann noch Jahre dauern
Nicht gehen, aber auch nicht bleiben: Das Londoner Parlament kann sich nicht entscheiden. Wohin soll eine Fristverlängerung eigentlich führen? Ein Kommentar.
Der "No Deal", den alle fürchteten, ist erstmal vom Tisch. Gut so. Das sorgt für Erleichterung. Doch gewonnen ist damit nichts. Europa hatte sich vom Abstimmungsmarathon dieser Tage im britischen Parlament eine Klärung erhofft, wie es nun weitergeht mit dem Brexit-Drama. Daraus wird nichts. Statt dessen wächst die Ungewissheit ein weiteres Mal. Der Weg zu einem geordneten Austritt aus der EU ist weiter nicht zu sehen.
Die Voten folgen – mit manchen skurrilen Abweichungen - dem erwarteten Drehbuch. Am Dienstag Abend hatte das Parlament den von Theresa May ausgehandelten Austrittsvertrag ein zweites Mal abgelehnt. Gestern, Mittwoch Abend, stimmten die Abgeordneten mit klarer Mehrheit gegen einen „No Deal“-Brexit. Nun folgt am Donnerstag Abend, wie prognostiziert, die dritte Abstimmung über eine Verlängerung der Frist über den 29. März hinaus.
Aber: Über was für eine Verlängerung will das Unterhaus eigentlich entscheiden? Ein paar Wochen bis zur Europawahl Ende Mai? Oder bis zur konstituierenden Sitzung des neuen Europäischen Parlaments am 2. Juli? Je nach Interpretation müssen die Briten bis zum einen oder anderen Datum raus aus der EU sein. Oder sie müssen trotz Brexit-Referendum noch einmal mitwählen – und das würde die Absurdität auf die Spitze treiben. jedenfalls wenn sie nicht in der EU bleiben wollen.
Das lässt Raum für maximal zwei bis drei Monate Verlängerung. Nur, wozu soll diese zusätzliche Zeit dienen? An den Mehrheitsverhältnissen wird sich in dieser Zusatzfrist nichts grundsätzlich ändern. Denn wenn diese Chance bestünde, wäre das schon in den zurückliegenden Wochen geschehen.
Die Blockade rührt daher, dass klare Mehrheiten wissen, was sie nicht wollen: Mays Austrittsvertrag. Auch keinen „No Deal“-Austritt. Aber ebenso wenig ein Verbleiben in der EU. In der jüngsten Blitzumfrage sprachen sich nur 38 Prozent dafür aus, den Brexit abzusagen und in der EU zu bleiben. Noch weniger wünschen ein zweites Referendum: 29 Prozent.
Mit ein paar Wochen Verlängerung ist nichts zu erreichen
Weder im Parlament noch in der Bevölkerung gibt es jedoch eine positive Mehrheit, was die Regierung nun tun soll. Gewiss doch, für eine Fristverlängerung wird es eine Mehrheit geben, weil das derzeit als einziger Ausweg erscheint, wie man ein „No Deal“-Chaos verhindert. Wozu diese Frist dienen soll, darüber sind sich weder die Abgeordneten noch die Bürger einig.
Zöge sich der Austritt der Briten noch jahrelang hin, dann wäre das eine politische Katastrophe für alle EU-Staaten einschließlich Großbritanniens. Um diese politische Katastrophe zu verhindern muss Großbritannien die EU vor den Wahlen zum EU-Parlament verlassen.
schreibt NutzerIn ford_perfect
Diese Klärung ist aber nötig, um abzuschätzen, wie lang die Fristverlängerung ausfallen soll. Geht es darum, den vorliegenden Austrittsvertrag zu modifizieren? Oder darum, Zeit für Neuwahlen in Großbritannien zu gewinnen, damit eine neue Regierung einen neuen Anlauf zum Brexit nehmen kann? Oder darum, das künftige Verhältnis des Königreichs zur EU auszuhandeln? Je nachdem geht es um Wochen, um Monate oder um Jahre.
Um es kurz zu machen: Mit ein paar Wochen Verlängerung ist wohl nichts zu erreichen. Die EU will den ausgehandelten Vertrag nicht aufschnüren. Zu Recht. Es deutet auch nichts darauf hin, dass eine klare Mehrheit im britischen Parlament zustande käme, wenn ein bestimmter Paragraph geändert würde.
Großbritannien braucht einen „Game Changer“, eine neue Richtung. Die Regierung hat die Kontrolle über den Prozess verloren. May wird keine Mehrheit für ihren Vertrag mehr bekommen. Das Druckmittel, mit dem sie diese erreichen wollte – die Drohung, dass sonst der ungeliebte „No Deal“ komme -, hat ihr das Parlament gestern aus der Hand geschlagen mit dem Votum gegen eben diesen „No Deal“.
Nun müsste das Parlament die Richtung weisen
Nun müsste das Parlament die Verantwortung übernehmen und jenseits der Parteigräben eine überparteiliche Mehrheit suchen: für einen Vertrag, wie das künftige Verhältnis Großbritanniens zur EU aussehen soll. Labour ist, zum Beispiel, für eine Zollunion.
Doch um diese Einigkeit, in welche Richtung es gehen soll, im britischen Parlament herzustellen und dann einen neuen Vertrag mit der EU auszuhandeln, reichen einige Wochen nicht. Das dauert wohl eher zwei Jahre. Oder länger.
Ja, die Briten sind nun für eine Verlängerung über den 29. März hinaus. Aber nur als Ausflucht, um den „No Deal“ zu vermeiden. Sie können sich nicht einigen, um wie viel Zeit sie verlängern wollen. Einen Monat würden laut Umfrage 52 Prozent unterstützen. Für mehr als drei Monate gibt es keine Mehrheit.
Entweder wird die Debatte heute Abend diesen Widerspruch offenbaren. Oder die EU wird den Briten sagen, dass sie einer Verlängerung nur zustimmen kann, wenn sie weiß, zu welchem Zweck. Es wäre eine Illusion zu hoffen, dass die Briten dabei sind, es sich anders zu überlegen und zu bleiben.
Mit all den Abstimmungen und Verhandlungen hat sich am entscheidenden Hindernis für eine Lösung nicht geändert: Die Briten wissen, was sie nicht wollen. Sie können sich aber nicht einigen, was sie wollen. Der Brexit wird Europa noch lange beschäftigen. Und davon abhalten, sich um die noch wichtigeren Zukunftsfragen zu kümmern. Das kann noch Jahre dauern. Zeit, die Europa nicht hat. Und die es sich auch nicht leisten kann angesichts der Bedrohung seiner Erfolgsgrundlagen durch die sich ändernde Welt-Unordnung.