Großbritannien: Der Brexit – eine gigantische Zeitverschwendung
Brennende Wälder, Bürgerkrieg, Rechtspopulisten: Die Lösung echter Probleme wird durch den Brexit behindert. Ein Kommentar.
Auf allen Datenströmen fließen sie, die Szenen, die Streitereien, Anekdoten, Rätsel und Geschichten über den Brexit. Großbritanniens aberwitziges Vorhaben, die beste Institution der Friedenssicherung zu verlassen, die der Kontinent samt Insel jemals besaß, die Europäische Union, war von Beginn an ohne Sinn und politischen Verstand. Die beim Referendum befragte Bevölkerung war fehlinformiert. Gestrickt aus Lügen und Übertreibungen waren die Versprechungen der Brexit-Kampagne. Realistische Pläne für die Jahre nach dem Austritt liegen bis heute nicht auf dem Tisch. Katastrophale Prognosen von Experten wurden der Öffentlichkeit bis vor wenigen Tagen vorenthalten.
Nirgends wurde die bittere Sinnarmut des Brexit deutlicher, als in den vergangenen Wochen der Tumulte und Turbulenzen im britischen Parlament. Auf den grünen Bänken des Londoner Unterhauses tosten die Emotionen, auf den roten Bänken des Oberhauses der Lords raufte man sich zumindest die Haare. Den immer intensiver werdenden, nahezu verzweifelt klingenden Ruf nach „Order! Oooorder!“, mit dem die Weltöffentlichkeit den britischen Parlamentspräsidenten John Bercow kennengelernt hat, gibt es bereits in allen Varianten als Zusammenschnitt auf YouTube-Videos. Cool! Irre! Unglaublich! Touristen sollen Bercow in London schon auf der Straße gedrängt haben, seinen Ruf für ihr Smartphone-Video auszustoßen, als sei er ein Löwe am Rand einer Safari.
Der Brexit besitzt einen Entertainment-Faktor
Realsatire, Kabarett, Dokudrama, yes, der Brexit besitzt einen Entertainmentfaktor. Yes, es steckt darin sogar eine Art Shakespearefaktor. But no – nichts davon entschädigt alle, die sich damit befassen müssen für die unermessliche Vergeudung von Arbeitszeit und Lebenszeit. Millionen Stunden gehen verloren mit den abstrusen Szenen, mit Spekulationen, mit dem Kolportieren von Gerüchten, Halbwahrheiten und Dementis. Ungezählte Zeit kosten die offiziellen und privaten Debatten, Chats, Telefonate, Memos und Papers, die Krisensitzungen in London, Edinburgh und Dublin, in Brüssel, Paris und Berlin.
Derweil werden Tropenwälder abgefackelt, schwelt der Bürgerkrieg in Syrien weiter, entern gefährliche Rechtspopulisten die Staatsschiffe von Ungarn bis Brasilien und Malaysia, drohen Irans Machthaber mit atomarer Aufrüstung, plagt sich die Welt mit Ozeanen voller Plastikmüll, steigt die globale Pharmaindustrie aus der profitarmen Forschung für Antibiotika aus, trommeln die Freitagsschüler für Klimaschutz, ertrinken Flüchtlinge, entgleitet der Datenschutz im Internet – kurz, gibt es relevante, echte Probleme. Andere, und viele.
Dem Fahnden nach deren Lösungen geht jede Stunde verloren, die der Brexit frisst, jeder Tag, jede Woche. Gefressen wird die von Steuergeldern bezahlte Arbeitszeit der Beamtinnen und Beamten der EU. Gestohlen wird die Zeit von Millionen Leuten, die mit Sorge oder im Disput verfolgen, was die britische Bühne bietet. Nichtbritische EU-Bürger auf der Insel bangen um ihre Stellen in der Wirtschaft oder als Akademiker. Briten im EU-Ausland stehen Schlange, um EU-Pässe zu ergattern. Hunderte von Unternehmen entwickeln Strategien, um auf die Folgen eines Brexit reagieren zu können. Industrie wie Behörden basteln an neuen Verträgen und Regularien, ohne überhaupt zu wissen, wie die Sache ausgehen wird. Chronophagen, Zeitfresser, nennt man in Frankreich Leute oder Umstände, die grundlos die Zeit Anderer beanspruchen. Als Chronophage ersten Ranges kann das Brexit-Debakel in die Chronik der Gegenwart eingehen, und mit ihm bekommt sogar der Begriff „Zeitgeschichte“ neue Bedeutung.
Die Medien und Boris Johnsons phantasmatische Ansprüche
Beansprucht wird die Zeit der Medien - inzwischen vor allem von dem Versuch, Boris Johnsons Kapriolen auf der Spur zu bleiben. Täglich widmen sich Zeitungen, Radio- und Fernsehsendungen den phantasmatischen Ansprüchen eines studierten Altphilologen, der sich soweit mit seiner Idee von Cäsarentum identifiziert, dass er glaubt, das Parlament auf Wochen kaltstellen zu dürfen. Nicht zuletzt diskreditiert der Premier damit das ohnehin weltweit bröckelnde Vertrauen in die Demokratie - und das als prominenter Vertreter eines ihrer ältesten Herkunftsstaaten.
Ohne jede Not war der Brexit-Plan entstanden. Die Ausgangslage war eine nur mäßig gute ökonomische Lage, entstanden vor allem durch neoliberale Tory-Regierungen, als Gewerkschaften entmachtet wurden und die Parole Deregulierung hieß. Für explodierende Wohnkosten in den Städten, stagnierende Löhne und das teils marode Gesundheitssystem des NHS wurden „die Fremden“ zum Sündenbock gemacht, etwa osteuropäische Handwerker, gekommen durch die Freizügigkeit in der EU.
Ihr Rauswurf aus der Insel würde keinen Wirtschaftsboom mit sich bringen, das ahnt inzwischen fast jeder. Nein, mit einem Brexit, erst recht einem ungeregelten, würde die Chronophagie noch größere Dimensionen erreichen. Das größte Zeitfressen, das größte Problem, darauf weisen britische Brexit-Gegner jetzt vermehrt hin, stünde dann überhaupt erst ins Haus. Ins Unterhaus, ins Oberhaus, in jedes Haus auf der Insel. Und in zahllose Häuser im übrigen Europa.