Tod des Flüchtlingsjungen Ailan: Der auslösende Augenblick
Nach dem tragischen Tod des Flüchtlingsjungen Ailan überdenken Staaten wie Großbritannien und Kanada ihre Haltung gegenüber Schutzsuchenden.
Abdullah wollte der Hölle in Syrien entkommen und mit seiner Familie nach Deutschland fliehen. Doch am Freitag kehrte der 40-Jährige in seine Heimat zurück – mit den Särgen seiner Kinder Ailan und Galip und seiner Frau Rihana. Ailan, der ertrunkene Dreijährige, dessen Foto um die Welt ging, wurde neben seinem Bruder und der Mutter in der nordsyrischen Stadt Kobane beigesetzt. Vater Abdullah ist ein gebrochener Mann. Er will in Kobane bleiben und hat nur einen Wunsch. „Die schmerzvolle Tragödie in Syrien soll endlich aufhören.“
Nach dem Freitagsgebet wurden die drei Särge auf dem Friedhof des nordsyrischen Ortes neben den frisch ausgehobenen Gräbern aufgestellt. Verwandte nahmen die in weiße Tücher gehüllten Kinderleichen aus ihren Särgen, um sie nach islamischer Sitte ins Grab zu legen. Politiker aus der Türkei und aus dem nordsyrischen Kurdengebiet gaben ihnen das letzte Geleit.
Die Familie bestieg in Bodrum ein Schlauchboot
Das Schicksal der Familie, die in der Nacht zu Mittwoch bei Bodrum an der Ägäis ein Schlauchboot bestieg, das sie zur griechischen Insel Kos bringen sollte, ist durch das Foto von Ailan zum Symbol des Flüchtlingselends an Europas Grenzen geworden. Vor einem Jahr floh Abdullah mit seiner Frau und seinen Söhnen aus Kobane, das damals von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) belagert wurde, über die Grenze in die Türkei. Zwölf Verwandte seien bei den Kämpfen gegen den IS umgekommen, sagte Abdullahs Schwiegervater Seho Sen der türkischen Zeitung „Radikal“.
In der Türkei wollten die Familie nur vorübergehend bleiben. Doch ein Asylantrag der Familie in Kanada wurde abgelehnt. Deshalb entschied sich Abdullah für die gefährliche Bootsfahrt nach Griechenland. Das eigentliche Ziel sei Deutschland gewesen, sagte Seho Sen: „Vor drei Monaten erzählte meine Tochter, dass sie nach Deutschland wollten.“ Die Familie habe Goldschmuck versetzt, um das Geld für Schleuser auftreiben zu können. Nur wenige Stunden vor der verhängnisvollen Fahrt habe er mit Tochter Rihana telefoniert und sie angefleht, nach Kobane zurückzukehren.
Einer Verwandten in Kanada vertraute Rihana kürzlich an, sie habe Angst vor der Überfahrt nach Griechenland, weil sie nicht schwimmen könne. Sie ertrank wie ihre beiden Söhne, als das Schlauchboot kenterte. Insgesamt starben in jener Nacht zwölf Flüchtlinge an der türkischen Ägäis-Küste.
Die Regierung in Ankara sieht sich nach dem Tod der Flüchtlinge in ihrer scharfen Kritik an Europa bestätigt. Der Westen wolle die Menschen aus Syrien und anderen Ländern von sich fernhalten, „koste es, was es wolle“, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu betonte, das Schicksal der Flüchtlinge verdeutliche die Notwendigkeit, in Syrien eine militärisch gesicherte Schutzzone für Rückkehrer einzurichten. Dieser türkische Plan wird vom Westen mit erheblicher Skepsis betrachtet.
An den türkischen Küsten setzten syrische Flüchtlinge ungeachtet der Gefahren ihre Versuche fort, über die Ägäis nach Griechenland zu gelangen. Auch von jener Bucht bei Akyarlar aus, an deren Strand der kleine Ailan tot aufgefunden wurde, fuhren erneut Schlauchboote los. „Sterben tun wir sowieso“, sagte der Syrer Hansa Baken der privaten türkischen Nachrichtenagentur DHA im westtürkischen Izmir. In Syrien sei ihnen der Tod gewiss. „Wenn wir rübergehen, haben wir immerhin eine kleine Chance, gerettet zu werden.“ Natürlich haben auch Flüchtlinge wie Baken vom Schicksal des kleinen Ailan gehört, doch umstimmen kann es sie nicht. „Traurig“ sei das, was dem Jungen geschehen sei, sagte Baken. Aber: „Wir werden fahren.“
Muhammet Özen vom Selbsthilfeverein der Syrer in Izmir zufolge wagen jede Nacht mehrere tausend Menschen die Überfahrt. Im Durchschnitt komme einer von hundert Flüchtlingen dabei ums Leben. Wegen der Aussichtslosigkeit in Syrien nähmen die Menschen dennoch das Risiko auf sich. „Europa bedeutet für sie die Rettung.“
Das Schicksal der Syrer treibt auch Großbritannien um
Das Schicksal der Menschen im Bürgerkriegsland treibt auch Großbritannien mehr und mehr um. Premier David Cameron hat sich jetzt dem Druck gebeugt und versprochen, „Tausende“ zusätzlicher syrischer Flüchtlinge aufzunehmen. Doch werden diese direkt aus den Lagern in Syriens Nachbarländern nach Großbritannien gebracht, betonte Cameron in Lissabon, wo er Spitzengesräche über EU-Reformen führte. „Wir werden mit Kopf und Herz handeln“, sagte Cameron, der dauerhafte Lösungen forderte. Das bedeute, die Konflikte zu beenden, die auch in Syrien für Tod und Not verantwortlich seien.
Wie viel Flüchtlinge aufgenommen werden, sage Cameron nicht. Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerks sind es zunächst 4000 Menschen. Nach Druck von Brüssel und Berlin, mehr in der Flüchtlingskrise zu tun, geriet Cameron durch die Veröffentlichung der Bilder des toten Kindes Ailan auch zu Hause in die Defensive. Mehr als 200 000 Menschen unterzeichneten eine Petition, weitere Syrienflüchtlinge aufzunehmen.
Der tragische Tod des dreijährigen Ailan konfrontiert auch die Kanadier mit der Frage, ob ihr Land genug tut, um zu helfen. Dass die Familie gerne nach Kanada gekommen wäre, aber bürokratische Hürden nicht überwinden konnte, berührt die Bevölkerung Kanadas zutiefst. Der Wahlkampf – am 19. Oktober wird über das neue Parlament abgestimmt – wird nun von der Flüchtlingskatastrophe bestimmt.
Mit erstickter Stimme erzählt die Tante das Schicksal der Familie
Das liegt nicht zuletzt an Fatima. Mit erstickter Stimme erzählt sie von einem Telefongespräch mit ihrem Bruder Abdullah und dessen Appell an die internationale Staatengemeinschaft: „Dies muss ein Weckruf für die ganze Welt sein. Meine Botschaft an die ganze Welt lautet: Bitte helft den Menschen, die das Meer überqueren. Lasst nicht mehr zu, dass sie diese Reise unternehmen.“ Lasst sie nicht sterben, habe ihr Bruder gesagt.
Fatima lebt in der kanadischen Pazifikstadt Vancouver, und es fällt ihr schwer zu reden. Aber dann schildert sie mühsam, was sie von ihrem Bruder über die schrecklichen Minuten im gekenterten Boot erfuhr. Wie Abdullah versucht hatte, seine beiden Söhne zu retten – und ihm dies nicht gelang. Und wie er auch noch den Tod seiner Frau miterleben musste. „Sie hatten es nicht verdient zu sterben. Sie wollten ein besseres Leben. So etwas sollte nicht passieren.“
Im Frühjahr hatte sich Fatima darum bemüht, ihre Angehörigen nach Kanada zu bringen. Zunächst hatten Medien gemeldet, dass sie für Abdullah und seine Familie einen Antrag gestellt habe. Inzwischen stellte sich aber heraus, dass sich dieser auf ihren anderen Bruder Mohammad bezog. Der Antrag aber wurde von den kanadischen Behörden zurückgewiesen, weil er unvollständig war. Mohammad entschied darauf, sich nach Deutschland durchzuschlagen. Für seinen Bruder Abdullah war damit die Hoffnung zerstört, er könne legal nach Kanada reisen. Fatima schickte ihm Geld, damit er die Schleuser bezahlen konnte. Jetzt macht sie sich Vorwürfe, dass sie mit ihrem Geld die tödliche Überfahrt finanzierte.
Nun stellen kanadischen Medien kritische Fragen. Einst war das Land berühmt dafür, dass es für Menschen in Not Herz zeigte. Die „Vancouver Sun“ verweist darauf, dass nach der Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 die Regierung Flugzeuge gechartert und 37 000 ungarische Flüchtlinge nach Kanada gebracht habe, mehr als 10 000 seien nach der Niederschlagung des Prager Frühlings aus der Tschechoslowakei gekommen, und – als größte humanitäre Aktion Kanadas – nach dem Vietnamkrieg mehr als 55 000 Vietnamesen.
Aber in den vergangenen zehn Jahren seien die Hürden für Flüchtlinge erhöht worden, die Zahl der akzeptierten Anträge gefallen. Das Foto von dem toten Ailan habe „uns und anderen das neue Kanada schonungslos aufgezeigt“, schreibt die Kolumnistin der Vancouver Sun. Und das sei etwas, worüber Kanada sprechen müsse, bevor es am 19. Oktober eine neue Regierung wähle.
Denn der tragische Tod an der türkischen Küste bestimmt nun den Wahlkampf. Die Behauptung des konservativen Premiers Stephen Harper, Kanada habe „eines der großzügigsten Verfahren für die Aufnahme von Flüchtlingen“ wird vielfach bezweifelt. Diese Aussage habe für frühere Regierungen gegolten, aber nicht für die von Harper, sagen Flüchtlingsanwälte.
Der kündigte an, mehr als bisher für Flüchtlinge tun zu wollen. Und verweist darauf, dass sich Kanada an den Luftangriffen auf IS-Stellungen beteiligt. Millionen würden von den Dschihadisten verfolgt und abgeschlachtet. „Dagegen müssen wir etwas tun.“