Rechtspopulismus: De Maizière versteht die Ostdeutschen nicht
Der Minister macht die "Veränderungsmüdigkeit" der Ostdeutschen für den dortigen Erfolg der Rechtspopulisten verantwortlich. Wer so argumentiert, hat wenig verstanden. Ein Kommentar.
Als Gitta Schüßler vor 13 Jahren für die NPD in den sächsischen Landtag einzog, fragten sich viele erschrocken, wie es passieren konnte, dass sich eine 40 Jahre alte Mutter mehrerer Kinder, Buchhändlerin zumal, in einer rechtsradikalen Partei engagiert. Für Schüßler lag die Antwort auf der Hand: Nach der Wende schlossen in ihrer Heimat erst die Betriebe, dann die Grundschulen und zum Schluss ließ man die wenigen Lehrer mit russlanddeutschen Zuzüglern, die kaum Deutsch sprachen, allein. In dieses politisch-gesellschaftliche Vakuum sprang die Frau hinein.
Wenn an diesem Sonntag die Wahllokale geschlossen sind, werden wohl in Ostdeutschland viele Wähler ihre Stimme wieder einer radikalen Partei, diesmal der rechtspopulistischen AfD, gegeben und damit maßgeblich dafür gesorgt haben, dass diese in den Bundestag einziehen kann. Und wieder wird die Frage auftauchen: Warum tun die Ossis das bloß?
De Maizière leugnet die eigene politische Verantwortung
Einer, der sich gern als Wahl-Dresdner bezeichnet, Bundesinnenminister Thomas de Maizière, hat dafür jetzt eine erschreckende Erklärung parat. Erschreckend nicht nur, weil der Mann, der praktisch seit der Maueröffnung in Ostdeutschland lebt, ganz offensichtlich noch immer kaum Zugang zu seinen Nachbarn, ja seinen Wählern gefunden hat. Erschreckend aber auch, weil er die eigene politische Verantwortung für die Gemütslage im Osten leugnet, wenn er erklärt, die Ostdeutschen seien „veränderungsmüde“ und neigten deshalb zu rechtspopulistischen Parolen, Hass und Fremdenfeindlichkeit.
Schaut man zurück auf die neunziger Jahre, dann folgte dem Versprechen, mit blühenden Landschaften werde das Leben besser als in der DDR, zunächst einmal eine Armada an mal gut, mal weniger gut ausgebildeten Demokratie-Helfern aus den West-Bundesländern. An den Schalthebeln der Treuhand haben sie die marode Wirtschaft auf Erbsengröße saniert (wo sie noch immer ist) und an den Schalthebeln der Landesregierungen die heimatlichen – westlichen – Strukturen dupliziert. Zurück blieb eine tief verunsicherte Gesellschaft, von der der Politologe Frank Richter ganz zu Recht sagt, dass eine so „überschichtete“ Bevölkerung weder eigenes Demokratieverständnis noch Selbstwertgefühl entwickeln konnte. Das Erlebte ließ bei vielen die Gewissheit reifen, dass politische Eliten mit Forderungen und Versprechen schnell zur Hand sind, die Menschen die Folgen solcher Politik jedoch allein tragen müssen.
Müde der Veränderungen sind die Ossis nicht
Mit dieser Veränderungserfahrung sollen die Ostdeutschen nun wieder offen für das Ungewisse sein, sich auf Digitalisierung, Globalisierung und Integration von Flüchtlingen einlassen. Wer genau hinsieht, wird kaum Belege finden, dass die Bereitschaft dazu in Rostock signifikant kleiner ist als in Kiel. Müde der Veränderungen sind die Ossis nicht. Müde mögen sie aber der Politiker sein, die sich mit ihrer Lebenswirklichkeit erst dann ernsthaft beschäftigen, wenn der Protest auf der Straße und in der Wahlkabine für sie selbst ungemütlich zu werden droht.
Antje Sirleschtov