„Eindruck von Führungslosigkeit“: Das Vertrauen in die Politik erodiert dramatisch
Die inhaltlichen Ergebnisse der großen Koalition können sich sehen lassen. Trotzdem schwindet das Zutrauen der Bürger in die politische Stabilität.
Der Befund ist mehr als ein Alarmsignal. Wenn man so will, ist dies die Halbzeitbilanz der Bürger. Die fällt weit weniger rosig aus, als die 83-seitige „Bestandsaufnahme“ der Bundesregierung. „Zwei Drittel der Bevölkerung sind über die Entwicklung von Politik und Parteien besorgt. Sie haben den Eindruck von Führungslosigkeit und Planlosigkeit“, schreibt Renate Köcher in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit Blick auf die dort publizierten Erhebungen des Demoskopie-Instituts Allensbach.
Welcher Befund ist besonders dramatisch?
Es gibt einen erdrutschartigen Verlust des Zutrauens in die regierenden Parteien, die Probleme des Landes zu lösen. Während 2015 noch 81 Prozent der befragten Bürger das politische System in Deutschland für stabil hielten, sind es heute nur noch 57 Prozent, die Qualität der Regierung halten nur noch 26 Prozent für überzeugend. Ein Hauptgrund ist der anhaltende Streit, aber nicht nur. „Die Bevölkerung nimmt die Koalition nicht nur als uneinig, sondern auch als wenig handlungsfähig wahr“, betont Köcher in der „FAZ“.
Für 53 Prozent der Befragten gelten CDU/CSU als zerstritten und 64 Prozent sehen die SPD als zerstritten an. Doch trotz allem sind nur 31 Prozent für Neuwahlen. 64 Prozent glauben kaum, dass dies zu einer starken, handlungsfähigen Regierung führt.
Nur die AfD-Anhänger sind klar für Neuwahlen (75 Prozent), was wiederum fast logisch ist: Die Partei könnte wie in Ostdeutschland auf einen neuerlichen Schub hoffen - und Union und SPD hält vor allem diese Angst vor einer Neuwahl zusammen. Auch wenn nicht wenig ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende mit einer womöglich noch stärkeren AfD für die bessere Alternative halten. Das Paradoxe: Die Regierungsbilanz, gemessen am Koalitionsvertrag, ist eigentlich gut: von Milliardeninvestitionen über sinkende Beiträge, höhere Sozialausgaben, eine Grundrente ab 2021, den schrittweisen Kohleausstieg und die Teil-Abschaffung des Soli – es wurde sehr viel erreicht.
Trifft der Verdruss nur Union und SPD?
Nein, auch die FDP. Christian Lindner bekommt hier schwarz auf weiß serviert, dass auch er einen Teil des Erosionsprozesses zu verantworten hat. Seine Absage an ein Jamaika-Bündnis („Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“) hängt ihm bis heute nach, nicht nur in den Umfragen. Die FDP habe durch den bewussten Verzicht auf ihre Machtoption „gravierend an Rückhalt verloren und anders als die Grünen auch nicht von der Schwäche der Regierungsparteien profitiert“.
Interessant: Grüne wie FDP gelten nur für vier Prozent der Bürger als zerstritten, das sind beides die Spitzenwerte bei der Bewertung der Parteienharmonie. Aber während den Grünen von 54 Prozent der Befragten attestiert wird, dass sie gerne Regierungsverantwortung übernehmen würde, wird der FDP dies nur von 32 Prozent attestiert. Der schlechteste Wert, zusammen mit der Linken.
Union wie Grünen kommen laut Allensbach derzeit auch auf das größte Wählerpotenzial, beide liegen bei 34 Prozent. Für den Volksparteianspruch von CDU/CSU ist jedoch das verheerend. Die SPD kann demnach sogar nur noch mit maximal 22 Prozent rechnen, die AfD mit 15 Prozent. Der Fall Thüringen zeigt bereits, dass es nach der nächsten Bundestagswahl noch schwerer werden könnte, zumal SPD-Vizekanzler Olaf Scholz eine weitere GroKo ohnehin ausschließt.
Was fördert die Erosion?
Dazu gibt es reihenweise Befunde und Studien, viel hat es auch mit dem Einnisten in abgeschlossene Denk- und Diskussionsblasen zu tun. Mehr konstruktiven Streit und Offenheit für andere Argumente fordert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Wie kann es sein, dass gerade so viele junge Menschen die AfD für attraktiv halten oder glauben, dass man als Rassist abgestempelt wird, wenn man sich negativ über Ausländer äußert?
Die Schriftstellerin Juli Zeh monierte kürzlich, schon seit Jahren würden auch von Intellektuellen die Schleusen geöffnet, um die Parteiendemokratie zu diskreditieren. Dies habe schon 2013 angefangen. „Auf einmal waren die Intellektuellen nicht mehr nur auf coole Weise desinteressiert an Politik – sie waren ausdrücklich dagegen.“ Philosophen, Schauspieler, Wirtschaftswissenschaftler und Journalisten hätten in den Chor eingestimmt. „Immer feste druff – auf die Politik und das System. (…) Steindumme Floskeln fanden tosenden Beifall, und zwar nicht nur am weltgrößten Stammtisch namens Internet, sondern auch in den Kommentarspalten der Qualitätspresse“, kritisierte Zeh.
Teilen andere Wissenschaftler den Befund?
Zumindest der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder hält ihn für plausibel. „Die in der Allensbach-Umfrage sichtbare Erosion des Vertrauens in die Regierung bildet einen längeren Prozess ab, ist also nichts Kurzfristiges“, sagt der Professor an der Universität Kassel. Der großen Koalition sei es „zu keinem Zeitpunkt gelungen, diesen Prozess aufzuhalten“. Schroeder hatte kürzlich mit der Bertelsmann-Stiftung eine Untersuchung vorgestellt, die der Regierung zur Halbzeit inhaltlich gute Noten ausstellte. Sie habe zwei Drittel ihrer Versprechen aus dem Koalitionsvertrag vollständig oder teilweise umgesetzt oder zumindest substantiell in Angriff genommen, wurde ihr bescheinigt.
Umso erschütternder ist das Urteil der Bürger. „Da die Ergebnisse der Groko sich gut sehen lassen können, war maßgeblich für den schleichenden Vertrauensverlust die Zerstrittenheit innerhalb und zwischen den Parteien“, lautet die Schlussfolgerung des Wissenschaftlers.
Wie gehen Führungspolitiker der Koalition mit dem Urteil um?
Der Befund schmerzt viele Vertreter von Union und SPD, denn nach ihrer eigenen Einschätzung bemühen sie sich redlich, das Land nach vorn zu bringen. Immer wieder beteuern Politiker der Groko, sie wollten nun besser zusammenarbeiten und gemeinsame Ergebnisse nicht mehr schlechtreden. Lange halten die Versprechen meist nicht, neuer Streit wird angezettelt.
Aus der Union und der SPD kommt immer wieder vernichtende Kritik an der Arbeit der eigenen Regierung, die breiten Widerhall findet. In Zeiten der Online-Demokratie ist es für Politiker fast unmöglich geworden, die Kommunikation ihrer eigenen Parteien zu steuern. Selbst kleine Fehler werden in Minutenschnelle zum großen Skandal aufgeblasen.
Könnte Vertrauen wieder wachsen, wenn die Parteien ihre Führungsfragen klären?
Nur in einer Partei der großen Koalition, in der CSU, sind die Machtverhältnisse klar. Markus Söder ist als Parteichef und Ministerpräsident unangefochten. In der CDU wird die Führungsfrage nach dem Parteitag am Wochenende offenbleiben, Annegret Kramp-Karrenbauer als Vorsitzende weiter unter Druck stehen. Die neuen Parteichefs der SPD sollen am 30. November feststehen. Es könnte aber sein, dass die Urabstimmung die Zerrissenheit der Partei dokumentiert, also keine Beruhigung bringt. Selbst wenn die Machtverhältnisse in CDU und SPD geklärt würden, so schätzt Schroeder, wäre das nicht ausreichend. Es gehe „um mehr als die Suche nach neuen Spitzen“, sagt er und fordert: „Die Parteien brauchen einen neuen inneren Gesellschaftsvertrag, der sie nach außen öffnet.“ Das heißt aber auch: Selbst wenn es gelingen sollte, verlorenes Vertrauen in die Politik wieder zurückzugewinnen, wird das ein sehr langer Prozess werden.