Regierung in der Krise: Das Unionsbeben erwischt alle zum falschen Zeitpunkt
Die Abwahl von Volker Kauder trägt neue Unsicherheit in die große Koalition. Wie konnte es dazu kommen, und wie geht es jetzt weiter? Fragen und Antworten.
- Maria Fiedler
- Hans Monath
- Robert Birnbaum
- Stephan Haselberger
- Antje Sirleschtov
Das Presseecho ist einmütig, das Urteil klar: Angela Merkel hat einen schweren politischen Schlag abbekommen. Die Kanzlerin musste schon allerlei Niederlagen einstecken. Aber dass die Unionsfraktion der Kanzlerin die Gefolgschaft verweigert und ihren Getreuen Volker Kauder als Fraktionschef abgewählt hat, hat eine ganz neue Qualität. Zum ersten Mal ist Merkel in einer derart zentralen Frage die Kontrolle über die eigenen Truppen entglitten. Ob das der Anfang von ihrem Ende war, ist eine müßige Betrachtung bei einer Kanzlerin in ihrer letzten Amtszeit. Aber ob das Ende der Ära Merkel anders, chaotischer, schneller kommen könnte, als es der Wahlkalender vorsieht, fragen sich nicht nur Parteifreunde. Das Kauder-Beben trägt auch neue Unsicherheit in die labile Regierungskoalition.
Wie konnte es dazu kommen?
Viele Gründe liegen auf der Hand. Vom Tag der Bundestagswahl über die mühsame Regierungsbildung bis zum Grenzkontroll-Streit vor und dem Maaßen-Debakel nach der Sommerpause – als Abgeordneter von CDU und CSU hat man derzeit bei den Bürgern keinen leichten Stand. Die Umfragen sind miserabel, in Bayern und Hessen drohen Niederlagen, kurz: Für Unmut gibt es Anlass.
Der entlud sich im Kleinen schon vor dem großen Knall. Am Montagabend entmachtete die Landesgruppe der hessischen Abgeordneten den langjährigen Vorsitzenden Michael Meister und wählte Michael Brand zum Landesgruppenchef. Meister hatte sich ungeschickt verhalten, als Ralph Brinkhaus bei der letzten Fraktionsvorstandsklausur offiziell die Kandidatur gegen Kauder anmeldete: Auf Brinkhaus’ vagen Hinweis, er habe Unterstützung von Kollegen aus dem wahlkämpfenden Landesverband, forderte Meister gleich die Namen ein.
Aber offenbar wurde dem 57-Jährigen ebenso wie Kauder vor allem die Sehnsucht nach neuen Gesichtern zum Verhängnis. Dafür spricht, dass Brand kein Anti-Merkel-Signal verkörpert – gerade in der Flüchtlingspolitik stand der Menschenrechtsexperte aus dem konservativen Wahlkreis Fulda stets klar hinter der CDU-Chefin. „Es geht um Umbau, nicht um Umsturz“, sagt der 44-Jährige.
Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer mussten also gewarnt sein. Aber sie versuchten nicht einmal mehr, aktiv in die Landesgruppen hinein für ihren Kandidaten zu werben. Merkels Entschuldigung für das offensichtliche Missmanagement im Fall Maaßen kam ebenso zu spät wie die Bitte in der Fraktionssitzung, ihr nicht in schwierigen Zeiten den bewährten Helfer zu nehmen. Kauder selbst blieb in Krisentagen unsichtbar. Der allseits als klug und frisch gewerteten Bewerbungsrede des Herausforderers hatte er nichts entgegenzusetzen. So fehlten ihm am Ende sieben Stimmen, die stattdessen auf Brinkhaus entfielen.
Wollten die Abgeordneten Merkel gezielt beschädigen?
Einige bestimmt. Aber das betreten-schockierte Schweigen in der Fraktion direkt nach der Abstimmung sprach für sich: Dass aus dem Denkzettel eine Revolution wurde, war so nicht geplant. Selbst Hans-Peter Willsch, als erklärter Gegner der Griechenland- und Flüchtlingspolitik von Kauder und Merkel kaltgestellt, versichert anderntags: „Meuterei ist zu viel gesagt.“
Tatsächlich zeigen Gespräche mit Abgeordneten aus allen Flügeln, dass Brinkhaus gerade deshalb die Wahl überraschend gewann, weil er nicht als Merkel- Gegner antrat. Der 50-jährige Finanzfachmann warb für sich nicht mit einem Kurs-, sondern mit Stilwechsel: offener und diskussionsfreudiger, weniger belastet von alten Rechthaber-Kämpfen um die Flüchtlingspolitik und den Umgang mit der AfD.
Einer aus der Riege von Merkels ehrgeizigen Gegenspielern, davon sind nicht zuletzt einschlägig Verdächtige selbst überzeugt, hätte hingegen keine Chancen gehabt. Eine harte Attacke hätte die Chefin abwehren können – im Grenzstreit mit Seehofer hatte die Fraktion sie gestützt. Gegen den weichen Angriff fand sie kein Mittel. Kauders Wahl zur Vertrauensfrage zu erklären, wäre selbst in den Augen ihrer Unterstützer völlig unverhältnismäßig erschienen. Jetzt die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen, wie es die FDP fordert, liefe auch auf reines Theater hinaus: Merkel würde sie überwältigend gewinnen. Denn Brinkhaus steht für frischen Wind; dass der Merkel vor der Zeit wegfegen soll, wollen weder der Neue noch die große Mehrzahl seiner Wähler. Allerdings: Absicht ist das eine – Folge und Wirkung etwas ganz anderes.
Wie stark schwächt die Niederlage die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende?
Mit Prognosen halten sich alle sehr zurück. Kauders Ende und Brinkhaus’ überraschender Blitzaufstieg zeigen ja auch, wie wenig auf alte Gewissheiten zu geben ist. Ein Fall Maaßen weniger, und Merkels Weggefährte wäre vielleicht noch im Amt. Ob der Machtwechsel an der Fraktionsspitze wie ein Ventil wirkt, das den Überdruck aus dem Kessel nimmt, oder eine Dynamik in Gang setzt, die beim Parteitag im Dezember Merkel den Parteivorsitz kosten könnte – reine Spekulation.
Viel wird davon abhängen, ob ins Regieren jetzt Ruhe einkehren und Erfolge sichtbar werden. Wichtig könnte auch die Landtagswahl in Hessen Ende Oktober werden, die bisher ganz im Schatten der Bayern-Wahl steht. Eine Niederlage würde Merkel angekreidet. Nicht zuletzt hat es Brinkhaus in der Hand, ob die CDU zu dem Schluss kommt, dass ein Wachwechsel gar nicht wehtut.
So oder so steht die Frage nach dem Wie und Wann von Merkels Abschied auf einmal scharf im Raum. Der CDU-Abgeordnete Armin Schuster wird nicht der Letzte bleiben, der von der Vorsitzenden auf dem Hamburger Parteitag zumindest eine Wegbeschreibung einfordert.
Auch für potenzielle Nachfolger stellt sich die Frage, wann der richtige Moment zum Aufzeigen kommt. Eigentlich wäre es für die zwei naheliegenden Kandidaten zu früh. Jens Spahn, Wortführer einer konservativen Wende, muss als Gesundheitsminister erst noch nachweisen, dass er auch Politik gestalten kann. Annegret Kramp-Karrenbauer hat das als Ministerin und Ministerpräsidentin im Saarland hinlänglich gezeigt, ist aber nach einem Jahr als CDU-Generalsekretärin bundesweit noch kein prägnantes Gesicht.
Merkel hat es immer zu Gerhard Schröders größtem Fehler erklärt, dass der SPD-Vorgänger in bedrängter Lage den Parteivorsitz an Franz Müntefering abgab. Doch der Vergleich hinkt. Für Müntefering war das Amt letzte Station; Merkels Nachfolger im Parteivorsitz hätte sofort Anspruch auf die nächste Kanzlerkandidatur. Merkel könnte mit einem Verzicht versuchen, die Nachfolge in ihrem Sinne zu lenken. Das funktioniert aber nur, wenn die Partei ihr folgt – und sie nicht die nächste Niederlage in einer Kampfabstimmung eingestehen muss.
Was bedeutet das Unionsbeben für die Sozialdemokraten?
Für die SPD ist es eine unverhoffte Erfahrung: Ausnahmsweise tobt die Krise nicht in den eigenen Reihen, steht nicht die Frage nach der Führungsfähigkeit von Andrea Nahles im Mittelpunkt, sondern die Misere der Union und ihrer Kanzlerin. Diesen Moment wollen die Genossen noch eine Weile auskosten. Es kann ja nicht schaden, wenn ein paar Tage lang die Widersprüche und Widrigkeiten in der Union ausgeleuchtet werden.
Allerdings: An einer dauerhaft lädierten Kanzlerin kann die SPD kein Interesse haben. Sozialdemokraten von Rang fürchten einen Teufelskreis: eine durchsetzungsschwache CDU-Chefin könne die CSU noch schlechter unter Kontrolle halten als bisher. Das wiederum habe zur Folge, dass die konservative Bayernpartei weiter den Streit um die Flüchtlingspolitik befeuere. Dann aber könne die SPD mit ihren klassischen Anliegen – Rente, Mieten, Kitas – kaum Gehör finden. In der Konsequenz blieben die Umfragewerte schlecht, die Unzufriedenheit an der Basis mit der großen Koalition würde wachsen. Und für die SPD-Führung werde es dann immer schwerer, die Partei in der Koalition zu halten.
Die SPD im Dilemma: In einer instabilen Koalition wäre sie womöglich zum Schrumpfen verdammt. Neuwahlen sind bei Umfragewerten um 18 Prozent und einer AfD im Aufschwung aber auch kein Ausweg. Womit wir wieder bei Angela Merkel wären. Was, wenn sie dem Druck nicht mehr standhält und zurücktreten sollte? Dann stünde die SPD vor der Frage, ob sie den Nachfolger oder die Nachfolgerin mit wählt. Dass die Genossen die Hand für einen Kanzler Jens Spahn heben würden, gilt als unwahrscheinlich. Den Konservativen halten viele Sozialdemokraten für untragbar.
Anders verhielte es sich, wenn die moderate Kramp-Karrenbauer für das Regierungsamt vorgeschlagen würde. Dann fiele es den SPD-Parlamentariern womöglich leichter, eine neue CDU-Kanzlerin zu wählen als in eine Neuwahl zu ziehen, die viele das Mandat kosten könnte.