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Dass tatsächlich flächendeckend das Gesundheitssystem überlastet werden könnte, erscheint vielen selbst nach mehr als anderthalb Jahren Pandemie undenkbar.
© Waltraud Grubitzsch/dpa

Drohender Zusammenbruch des Gesundheitssystems: Das Thema Triage geht jeden von uns an

Gefühlt ist die Triage für viele Menschen noch weit weg. Real ist sie ganz nah. Die Gesellschaft darf die Kliniken damit nicht alleine lassen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Karin Christmann

Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Nach diesem Motto wird in Deutschland das Thema Triage debattiert, oder besser gesagt: nicht debattiert. Dass tatsächlich flächendeckend das Gesundheitssystem überlastet werden könnte, erscheint vielen selbst nach mehr als anderthalb Jahren Pandemie undenkbar. Gefühlt ist die Triage für viele Menschen noch weit weg. Real ist sie ganz nahe. 

Bei einem Online-Vortrag, der als "Brandrede" für Aufsehen sorgte, sagte RKI-Chef Lothar Wieler am Mittwochabend: "Es ist in jeder Region Deutschlands bereits die normale Versorgung nicht mehr so gesichert, wie wir das kennen." Warum nur nimmt die Politik diesen Mann und seine Expertise nicht ernst (genug)?

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Schlaganfallpatient:innen bekommen erst nach zwei Stunden ein Bett, die Operationen von Krebspatient:innen werden auf unbestimmt verschoben, so schildert es Wieler. Auch das bedeutet, dass Menschen sterben, bei denen es aus rein medizinischer Sicht nicht hätte geschehen müssen. Auch das ist, zumindest im Ergebnis, eine Form der Triage, und sie wird bereits heute praktiziert.

Ein Gesundheitssystem, das schon jenseits der roten Grenze ist, wird in den kommenden Wochen eine stark steigende Zahl von krankenhaus- oder sogar intensivpflichtigen Patient:innen zu versorgen haben. Das Thema Triage steht nun an.

Noch ist es möglich, den Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung auf Teilbereiche des Systems sowie auf bestimmte Regionen des Landes zu begrenzen. Aber erstens ist ungewiss, ob es dafür die politische Bereitschaft gibt. Und zweitens ist die harte Triage mindestens eine realistische Option - für die daher Vorsorge zu treffen ist. Es ist ein bitteres Versagen der Politik, dass die Gesellschaft an diesen Punkt gelangt ist.

Was Ärzt:innen, Pfleger:innen, Jurist:innen abverlangt werden wird, ist eine unmenschliche Last

Es gibt Leitlinien für die Triage, doch die machen eine gesellschaftliche Debatte alles andere als überflüssig. Was hier womöglich Ärzt:innen und Pfleger:innen, auch Jurist:innen, abverlangt wird, ist eine unmenschliche Last. Für Menschen in den medizinischen Professionen gehört es zum Beruf, Leben zu retten. Nun sehen sie sich womöglich in der Lage, über Leben richten zu müssen. Die Gesellschaft darf sie damit nicht alleine lassen.

Das bedeutet: Sie muss sich ehrlich eingestehen, dass womöglich eine Wahl zu treffen ist zwischen Lockdown und Triage. Das bedeutet auch: Wer sich jetzt nicht impfen lässt, wer sein persönliches (Kontakt-)Verhalten nicht der Dramatik der Lage anpasst, dem muss klar sein, dass er so vielleicht dazu beiträgt, anderen Menschen unzumutbare Entscheidungen zuzumuten. Triage ist ein Thema, das jede und jeden angeht.

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