Mehr Schüler, zu wenig Lehrer: Das Thema Bildung entscheidet jede Wahl
Mehr Kinder, mehr Schüler – das sollte in einem starken Land Grund zur Freude sein. Doch Deutschlands Schulsystem ist marode. Ein Kommentar.
Mit Prognosen soll man vorsichtig sein, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Vor vier Jahren saßen die Kultusminister beisammen und rechneten. Die Geburtenrate ging zurück, alle Daten deuteten auf eine stetig sinkende Zahl von Schülern hin. Auf dieser Grundlage wurde geplant. Wie viele Schulen werden gebraucht, wie viele Lehrer, wie viele Lehrstellen, wie viele Studienplätze? „Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht, und mach dann noch ’nen zweiten Plan, geh’n tun sie beide nicht", heißt es in der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht.
Denn dann änderte sich die Berechnungsgrundlage. Plötzlich stieg die Geburtenrate – sowohl bei Frauen mit deutscher als auch bei Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Und viele der mehr als eine Million Schutzsuchenden, die seit Herbst 2015 nach Deutschland kamen, brachten ihre Kinder mit. Insofern kann das Ergebnis der neuen Bertelsmann-Studie kaum überraschen. Die Schülerzahlen werden steigen statt sinken. Besonders dramatisch ist die Lage in Grundschulen und Stadtstaaten. Zehntausende neue Lehrkräfte und Tausende neue Schulen werden gebraucht.
Was bei einem gut funktionierenden Bildungssystem als frohe Botschaft und allenfalls als Weckruf verstanden würde, lässt nun in weiten Teilen Deutschlands die Alarmsirenen ertönen. Die Stadt Berlin etwa leidet ohnehin unter akutem Lehrermangel. Viele Schulen sind marode, die Sanierung kommt nur schleppend voran. Lehrer klagen über gestiegene Arbeitsbelastungen durch soziale Spannungen, Willkommensklassen, die Inklusion verhaltensauffälliger Schüler, mangelnde Deutschkenntnisse, erhöhte Gewaltbereitschaft, die fehlende Unterstützung durch Eltern. Kein Wunder, dass der Krankenstand bei Lehrern hoch ist, die Zahl der Quereinsteiger nimmt wegen der Fehlplanung zu. Wenn jetzt die Klassen größer werden, droht der Kollaps.
Was Eltern wollen
Es ist erschütternd, dass die meisten Politiker geradezu phlegmatisch auf diesen Befund reagieren. Mit angelerntem Feuereifer sprechen sie über innere Sicherheit, soziale Gerechtigkeit, Flüchtlingspolitik und Steuerfragen. Dass aber sämtliche Wahlen in diesem Jahr gezeigt haben, wie wichtig das Thema „Schule und Bildung“ geworden ist, wird offenbar verdrängt. Es begann im Saarland, wo die CDU unter Annegret Kramp-Karrenbauer mit der Forderung zulegen konnte, jedem Kind, das ab August 2018 geboren wird, ein „Bildungskonto“ mit einem Betrag von 2000 Euro zukommen zu lassen.
In Nordrhein-Westfalen wurde Rot-Grün hauptsächlich wegen seiner als allzu experimentierfreudig wahrgenommenen Schulpolitik abgewählt. Und in Schleswig-Holstein wurde der SPD angelastet, für eine der höchsten Schulabbrecherquoten verantwortlich zu sein. Der Komplex Schule/Bildung rangierte auch dort auf Platz eins, vor Verkehr, Flüchtlingen, Infrastruktur und Arbeitslosigkeit.
Was Eltern wollen, ist kein Geheimnis. Ihre Kinder sollen gut betreut, in den Schulen gefordert und gefördert werden, eine Fixierung auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts – Stichwort achtjährige Gymnasialzeit – wird abgelehnt. Begrüßt werden Ganztagsschulen, um Beruf und Familie in Einklang bringen zu können. Die große Mehrheit setzt sich für eine bundesweite Vereinheitlichung des Schulsystems ein. Es gibt eine ausgeprägte Toleranz gegenüber Gemeinschaftsschulen, Inklusion und Integration, die aber geknüpft ist an genügend Lehrkräfte, Sonderpädagogen, Schulbegleiter.
Das klingt trivial, ist es aber nicht. Mit seinen Investitionen in das Bildungssystem liegt Deutschland unterhalb des OECD-Durchschnitts. Insbesondere dort, wo die Basis für den Bildungserfolg gelegt wird, in den Grundschulen, wird mit Mitteln gegeizt. Mehr Kinder, mehr Schüler – das sollte in einem starken Land Grund zur Freude sein. Von wegen Fachkräftemangel und Rentensystem. Die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden sprudeln. Nicht kleckern, sondern klotzen: Das gilt in der Bildung auf allen Ebenen und mehr denn je. Nie war der Zeitpunkt günstiger.