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Migranten in der Nähe des Grenzüberganges in Edirne, Türkei.
© Emrah Gurel/AP/dpa

Türkische Regierung gibt sich kompromisslos: Das sind die drei wichtigsten Motive für die Grenzöffnung

Erdogan hat die Ankunft von mehreren Millionen Flüchtlingen an den EU-Grenzen angekündigt. Was steckt hinter seiner Entscheidung, die Grenzen zu öffnen?

Auf EU-Ratspräsident Charles Michel wartet eine schwierige Aufgabe: Er hat sich am heutigen Mittwoch in Ankara zu Gesprächen mit Staatschef Recep Tayyip Erdogan über die neue Flüchtlingskrise angesagt. Die türkische Regierung gibt sich seit der Grenzöffnung in der vergangenen Woche kompromisslos.

Erdogan hat die Ankunft von mehreren Millionen Flüchtlingen an den EU-Grenzen angekündigt, ein Gipfeltreffen mit den Nachbarstaaten und EU-Mitgliedern Griechenland und Bulgarien abgelehnt und das Angebot einer EU-Hilfszahlung von einer Milliarde Euro ausgeschlagen. Erdogan will militärische und politische Hilfe des Westens in Syrien und mehr EU-Unterstützung bei der Versorgung von Flüchtlingen in der Türkei selbst erzwingen. Die drei wichtigsten Motive hinter dem Verhalten der Türkei.

Der EU-Flüchtlingspakt

Erdogans Regierung wirft der EU vor, ihre Zusagen aus dem Flüchtlingsabkommen von 2016 nicht eingehalten zu haben. So seien die damals versprochenen sechs Milliarden Euro noch nicht bezahlt worden – dagegen sagt Brüssel, das Geld sei genehmigt, werde aber nicht auf einen Schlag, sondern nach und nach ausbezahlt, etwa in Form der Gehälter von Mitarbeitern laufender Hilfsprojekte für Flüchtlinge in der Türkei.

Ankara plädiert zudem für eine Überweisung künftiger EU-Mittel an den türkischen Staat. Bisher wird das Geld projektgebunden gezahlt, geht aber nicht an die türkische Regierung.

Recep Tayyip Erdogan, Staatspräsident der Türkei.
Recep Tayyip Erdogan, Staatspräsident der Türkei.
© Mustafa Kaya/XinHua/dpa

Unbegründet ist Erdogans Kritik trotzdem nicht, sagt Kati Piri, die frühere Türkei-Berichterstatterin des EU-Parlaments. So sei aus der Visafreiheit für Türken in der EU und aus einer Erweiterung der Zollunion nichts geworden, obwohl die EU dies 2016 im Rahmen des Flüchtlingspakts in Aussicht gestellt habe.

Auch Fortschritte im Beitrittsprozess der Türkei seien ausgeblieben, schrieb Piri auf Twitter. Wie es nach der Zahlung der sechs Milliarden Euro mit dem Flüchtlingsabkommen weitergehen soll, ist ebenfalls unklar.

Griechische Polizisten vertreiben Migranten im Hafen von Mytilene, Griechenland.
Griechische Polizisten vertreiben Migranten im Hafen von Mytilene, Griechenland.
© Panagiotis Balaskas/AP/dpa

Erdogan sagt, sein Land wolle kein Geld mehr von der EU. Europa müsse ab sofort mit sehr viel mehr Flüchtlingen zurechtkommen. Doch das dürfte nicht das letzte Wort der Türkei sein. Das türkische Außenamt betonte, es gebe keine grundsätzliche Änderung in der türkischen Flüchtlingspolitik. Erdogans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun rief die Europäer auf, mit der Türkei zusammen an „umfassenden Lösungen“ zu arbeiten.

Ankara bricht zudem nicht alle Brücken ab. So schont die Türkei den nördlichen EU-Nachbarn Bulgarien: An der türkisch-bulgarischen Grenze gibt es keinen Flüchtlingsansturm wie an der griechischen Grenze.

Die türkische Innenpolitik

In der türkischen Öffentlichkeit gibt es schon lange Kritik an der hohen Zahl von rund vier Millionen Flüchtlingen im Land; das Thema war einer der Gründe für die Niederlage von Erdogans Partei AKP bei den türkischen Kommunalwahlen im vergangenen Jahr. Laut einer neuen Umfrage ist der Wählerzuspruch für die AKP, der zu den Glanzzeiten der Partei bei 50 Prozent lag, auf 29 Prozent gesunken.

[Lesen Sie alle neuen Entwicklungen zur türkischen Grenzöffnung hier in unserem Liveblog.]

Eine neue Fluchtwelle aus Idlib würde Erdogan in neue innenpolitische Schwierigkeiten bringen. Dagegen wäre die Durchsetzung von Reisefreiheit für Türken in der EU ein großer Erfolg für den Präsidenten.

Kritiker werfen Erdogan vor, mit immer neuen Konflikten wie dem in Idlib oder dem Flüchtlingsstreit mit der EU vom Scheitern seiner Syrien-Politik und von anderen Problemen wie der schlechten Wirtschaftslage ablenken zu wollen. Der Präsident betreibe bloßen „Aktionismus“, schrieb der regierungskritische Journalist Mehmet Yilmaz in einem Beitrag für das Nachrichtenportal T24.

Der Konflikt in Syrien

Die Türkei sei bereit, die syrischen Regierungstruppen „auf die harte Tour“ von ihrer Offensive in der umkämpften Provinz Idlib abzubringen, sagte der türkische UN-Botschafter Feridun Sinirlioglu vorige Woche im Sicherheitsrat in New York. Tausende türkische Soldaten sind in Idlib einmarschiert, um die Syrer aufzuhalten. Auch gegenüber dem Westen fährt Ankara die „harte Tour“: Die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge ist ein Druckmittel, das wenige Stunden nach dem Tod von mehr als 30 türkischen Soldaten in Idlib vergangene Woche verkündet wurde.

Ankara verlangt westliche Hilfe bei der Einrichtung einer „Schutzzone“ in Idlib, um die rund eine Million Flüchtlinge in der Provinz von einem Marsch in die Türkei abzuhalten. Im kurdisch dominierten Nordwesten Syriens will Erdogan mit Milliarden-Hilfen der Europäer eine weitere „Schutzzone“ aufbauen, um dort Flüchtlinge aus der Türkei anzusiedeln. Schon vor der Grenzöffnung hatte die Türkei zudem die Stationierung amerikanischer Flugabwehrsysteme an der syrischen Grenze gefordert.

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