Jugendliche Flüchtlinge in Deutschland: „Das neue Asylpaket ist eine Verschlechterung“
Flüchtlingsexperte Tobias Klaus über die aktuelle Situation und die Zukunftsperspektiven unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge.
Herr Klaus, tausende Jugendliche aus Krisenregionen flüchten jedes Jahr alleine nach Deutschland. Wer sind diese minderjährigen Flüchtlinge?
Der Großteil der Jugendlichen kommt aus Bürgerkriegsländern, aus Somalia, Afghanistan und dem Irak, neuerdings auch aus Syrien. Lange Zeit kamen Syrer mit ihren Familien, jetzt sind unbegleitete Minderjährige aus Syrien die zweitgrößte Gruppe nach denen aus Afghanistan. Knapp 90 Prozent sind männliche Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren. Wir schätzen, dass es in diesem Jahr bis zu 30.000 junge Menschen sein werden, also mindestens eine Verdopplung gegenüber dem Vorjahr. Zwischen 2010 und 2013 kamen jedes Jahr zwischen 4000 und 5000 unbegleitete Jugendliche – wir haben es also mit einer erheblichen Steigerung zu tun.
Was bringt halbe Kinder dazu, sich auf diesen gefährlichen Weg zu machen?
Wir haben aktuell die größte Flüchtlingskrise weltweit seit 1945. Je länger die Bürgerkriege dauern, die diese Krise auslösen, desto häufiger werden Familien versprengt. In allen vier Ländern, die ich Ihnen nannte, werden zudem auch Minderjährige von Milizen zwangsrekrutiert, das bedroht vor allem die Jungen. Außerdem können viele Familien nicht gemeinsam fliehen, entweder weil das Geld nicht reicht oder weil es etwa Kleinkinder gibt, mit denen die Flucht nicht möglich ist. Je länger Kriege wie der in Syrien dauern, desto schwächer werden die finanziellen Ressourcen der geflüchteten Familien.
Was ist mit Eritrea, woher so viele junge Menschen kommen?
Eritrea ist schon seit vielen Jahren eines der Hauptherkunftsländer. Dort werden Heranwachsende zum Militärdienst eingezogen, der oft eine Form von knüppelharter Zwangsarbeit in Regierungsprojekten ist. Wer sich entzieht, wird gnadenlos verfolgt. Dann drohen Haft, Folter und Misshandlungen. Aus Eritrea kommen auch viele Mädchen, weil der Militärdienst auch für sie gilt.
Was erwartet unbegleitete Minderjährige in Deutschland?
Sie werden in relativ hohem Maße als schutzbedürftig anerkannt, wir hatten zuletzt eine bereinigte Schutzquote von 78 Prozent. Sehr viele erhalten schon im behördlichen Erstverfahren Schutz. Man kann davon ausgehen, dass die meisten Gründe für einen dauerhaften Aufenthalt hier haben und der allergrößte Teil dieser jungen Leute in Deutschland bleiben wird. Viele von ihnen stellen allerdings keinen Asylantrag, weil sie die negativen Konsequenzen einer Ablehnung fürchten – das führt langfristig dazu, dass sie als nur Geduldete eine schlechtere Rechtsposition haben.
Was ändert sich mit 18, wenn die Jugendlichen volljährig sind?
Mit der Volljährigkeit werden die Probleme größer, da schlägt oft die volle Härte des Aufenthaltsrechts für Erwachsene zu. Es gibt einige Kommunen, die das gut machen und diese Härten mildern helfen. Die Jugendhilfe ermöglicht Unterstützung bis zum 21. Lebensjahr – darüber kann sichergestellt werden, dass die Früchte dessen, was Schule und Jugendhilfe auf den Weg gebracht haben, auch geerntet werden können.
Das jüngste Asylpaket vom Oktober hat auch Veränderungen für jugendliche Flüchtlinge gebracht. Sie sollen jetzt zum Beispiel besser bundesweit verteilt werden.
Das sehen wir als großes Problem. Jetzt wird deutschlandweit auf unvorbereitete Kommunen verteilt, ohne ausreichende Ressourcen, gute Infrastruktur und geschultes Personal. Natürlich ist der massive Anstieg der Zahl junger Flüchtlinge eine Herausforderung, für die wir Verständnis haben. Aber es ist eine fatale Fehlplanung, wenn die Jugendlichen jetzt mit der Gießkanne verteilt werden.
Aber muss man nicht die Jugendämter und Einrichtungen entlasten, die bisher den Löwenanteil zu betreuen hatten?
München, Bremen und Hamburg mussten sicher entlastet werden, auch Aachen ist ein Schwerpunkt für junge Flüchtlinge. Aber dies darf nicht auf Kosten der Minderjährigen geschehen.
Berlin braucht keine Entlastung?
Berlin hat in etwa die Zahl Jugendlicher, die seinem Anteil nach dem Königsteiner Schlüssel zur Verteilung entspricht.
Wie sollte die Entlastung Ihrer Meinung nach aussehen?
Es wäre deutlich besser gewesen, Kompetenzzentren aufzubauen statt jetzt auch Kleinstjugendämter in die Pflicht zu nehmen, die im Grunde schon mit 20 unbegleiteten Minderjährigen überfordert wären.
Das hieße also, die jungen Leute in den Großstädten zu konzentrieren?
Nein, wenn Personal und Unterbringungskapazitäten fehlen, kann auch dort eine Gefährdung des Kindeswohls entstehen. Man könnte aber in deutlich mehr Städten als bisher Kompetenzzentren aufbauen und Schwerpunktjugendämter bilden. Von ihnen aus ließe sich auch die Versorgung von Jugendlichen in der Fläche organisieren. Die jetzige Ad-hoc-Gesetzgebung befördert aber massive strukturelle Probleme. Man sollte nicht jede Kommune zum Neuaufbau von Strukturen zwingen. Wir hoffen, dass die Länder hier noch nachsteuern.
Haben Sie schon Erfahrungen mit der neuen Lage?
Das wird noch dauern, das Gesetz ist ja erst seit zwei Wochen in Kraft. Wir haben allerdings bereits jetzt viele Anfragen aus Kommunen, die noch keinerlei Erfahrung mit unbegleiteten Jugendlichen haben. Viele Städte und Gemeinden haben durchaus guten Willen, das gut hinzubekommen, aber es gibt einen enormen Bedarf an Schulung und es braucht finanzielle Hilfen beim Strukturaufbau.
In Berlin gab es Aufrufe, sich als Vormund für unbegleitete Jugendliche zur Verfügung zu stellen – was halten Sie davon?
Ehrenamtliche Vormünder können eine gute Ergänzung sein. Gerade in Berlin dauert die Bestellung der Amtsvormünder sehr lange, und wer Vormund ist, muss sich oft um zu viele kümmern, um dies angemessen zu tun. Bei den Ehrenamtlern muss aber geprüft werden, ob sie geeignet sind, ob sie stabil und zuverlässig genug sind, Jugendliche zu begleiten, ob sie ein sauberes Führungszeugnis haben. Und sie müssen geschult und weitergebildet und dürfen auf keinen Fall allein gelassen werden. Die Lage ist bundesweit übrigens extrem unterschiedlich: Manche Jugendämter suchen dringend nach Vormündern, andere habe keinerlei Bedarf mehr.
Für Jugendliche wird das jüngste Asylpaket eher als Verbesserung angesehen. Sie sehen das anders – wieso?
Die letzten Asylrechtsverschärfungen haben ihre Integrationschancen verschlechtert, und nicht nur die von jungen Leuten aus sogenannten sicheren Herkunftsländern. Wenn sie als unbegleitete Minderjährige in die Obhut der Jugendämter kommen, sind sie zwar nicht von den neuen Härten der verlängerten Erstaufnahme betroffen, aber sie haben ein riesiges Problem, nach der Schule in eine Ausbildung wechseln zu können, da die Ausbildungsverbote massiv ausgeweitet wurden. Durch diese Verbote werden die Bemühungen von Schulen, Jugendhilfe und Betrieben zunichtegemacht und die Zukunft junger Menschen zerstört, die man – statt sie in die Ausbildung zu lassen – in Flüchtlingsunterkünfte zwingt. Das ist eine Katastrophe.
Tobias Klaus ist Referent beim Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (Bumf) in Berlin.