Ende der Libertinage: Was der Fall Strauss-Kahn mit den Franzosen macht
Der Fall Dominique Strauss-Kahn ist ein Lehrstück. Er ist ein wahrer clash of civilisations mit genug Material, um sowohl den Anti-Amerikanismus der Franzosen als auch das French bashing der Amerikaner langfristig zu bedienen.
Elaine Sciolino, langjährige Bürochefin der „New York Times“ in Paris, beschreibt in ihrem jüngst erschienenen Buch, wie sie ihren ersten Handkuss à la française bekam: Es war Jacques Chirac, damals im zwölften Jahr seiner Präsidentschaft, welcher der erfahrenen US-Kriegsreporterin Sciolino eine Art Kulturschock versetzt hatte. Die Szene fand statt im Elysée-Palast, in einem Salon mit altem Glanz und viel Gold, Stil Napoleon III. Sciolino erinnert sich: „Chirac griff nach meiner rechten Hand, hielt sie sanft in seiner, als wäre es ein Stück Porzellan aus seiner privaten Sammlung. Er führte sie bis zur Höhe seiner Brust, neigte seinen Kopf, um ihr auf halben Weg entgegenzukommen, und atmete tief ein, als würde er ihren Duft aufsaugen wollen. Die Lippen berührten die Haut.“ An diesem Handkuss wird Sciolino Frankreich erklären: eine Gesellschaft, die immer noch nach den Gesetzen der Libertinage des 18. Jahrhunderts funktioniert, in der Verführung nicht allein ein sexuelles Projekt ist, sondern ein elegant verpacktes Machtspiel, bei dem man auf möglichst indirektem Wege und angenehme Weise zu seinem niemals explizit erklärten Ziel kommen will.
Es mag Zufall sein, dass Sciolinos Buch über die französische Verführungskunst („La seduction: How the French play the Game of Life“) ausgerechnet in den Tagen herauskam, als Dominique StraussKahn in New York verhaftet worden ist. Kein Zufall indes ist, dass ihr Franzosen-Essay die Affäre DSK gewissermaßen kulturgeschichtlich untermauert: Die Verführungskunst, so lautet Scolinos Grundthese, ist die Grundfeste der französischen Gesellschaft.
Die Sache ist wirklich vertrackt: Die Wahrheit darüber, was wirklich an jenem Tag im Mai in der Suite 2806 des Sofitel geschah, wird der Öffentlichkeit mit großer Wahrscheinlichkeit für immer vorenthalten bleiben. Aber ungeachtet dessen geht es inzwischen vor allem um Deutungshoheit. Nicht, was ist passiert, scheint die Frage, sondern, wer hat recht? Deswegen ist der Fall DSK ein Lehrstück auf vielen Ebenen. Es ist, und das zeigt vor allem die Freilassung, die dem ganzen endgültig den Duft des Dramas, den Anschein der großen griechischen Tragödie verleiht, ein wahrer clash of civilisations, der genug Material geliefert hat, um sowohl den Anti-Amerikanismus der Franzosen als auch das French bashing der Amerikaner langfristig zu bedienen.
Die Amerikaner, die viele französische Männer ohnehin für „dangerously oversexed“ halten, wie die „New York Times“ schrieb, haben im Fall DSK ihre Vorurteile gegen Frankreich bestätigt bekommen. In New York lebende Franzosen sagten vor laufender Kamera aus, dass sie sich als Franzosen in den USA diskriminiert fühlten. Doch seit sich das Blatt gewendet hat und das vermeintliche Opfer mehr und mehr unglaubwürdig erscheint, sind es wieder die Franzosen, die sich für die besseren Menschen halten können. Der unvermeidliche Bernard-Henri Lévy sprach sofort von „puritanistischem Irrsinn“.
Unmittelbar nach der Freilassung, also vor der Anzeige der französischen Autorin Tristane Banon, hat sich nach einer Umfrage die Hälfte der Franzosen dafür ausgesprochen, dass DSK die politische Bühne wieder betreten sollte. Ab dem Augenblick, da die Aussage von Nafissatou D. in Frage gestellt werden konnte, ist Strauss-Kahn zunächst auch von den französischen Medien wieder als potentieller Erlöser gezeigt worden. Die Bilder des unrasierten, gedemütigten Machtmenschen wurden sofort ersetzt durch solche, die sein altes Siegerlächeln zeigten. So, wie die Amerikaner DSK ohne Prozess vorverurteilt haben, wird er nun von den Franzosen ohne Prozess reingewaschen. Die Heilige wurde zur Hure, der Täter zum Opfer. Kurzzeitig – bevor dann die nächste Wende kam – sah es tatsächlich so aus, als könne DSK als Präsidentschaftskandidat zurückkehren. Da war sie plötzlich wieder gewesen, die Lichtgestalt am Horizont, die Frankreich von einem zweiten Mandat Sarkozys und auch der Bedrohung Marine Le Pens retten könnte. In dieser kurzen Phase wirkte es so, als sei der plötzlich öffentlich gemachte Reichtum des Ehepaares mit einem Mal die größere Hürde für DSK als sein ausschweifendes, offensichtlich ans Pathologische grenzende Sexualleben. Warum? Weil über Geld zu reden in Frankreich immer noch tabu ist. Weil Geld in gewisser Weise obszöner ist als Sex. „In den USA“, notierte Sylvie Kaufmann, Chefredakteurin von „Le Monde“, „kann man links und reich sein. Nicht in Frankreich.“ Doch dann kam die nächste Wende – der Entschluss der Journalistin und Schriftstellerin Tristane Banon, gegen Strauss-Kahn Anzeige wegen versuchter Vergewaltigung im Jahr 2003 zu erstatten. Die Pariser Staatsanwaltschaft erklärte am Freitag, deswegen ein Vorermittlungsverfahren gegen DSK eingeleitet zu haben. Seit der Anzeige wollen jetzt nur noch 35 Prozent der Franzosen sehen, dass DSK in den Wahlkampf als Präsidentschaftskandidat geht. 57 Prozent aber sehen ihre Annahme eines Komplotts wieder bestätigt. Die Franzosen wollen Strauss-Kahn für unschuldig halten, aber er soll sie nun bitteschön endlich in Ruhe lassen. Sie sind die Debatten leid. Sie haben andere Sorgen als die Trüffel, die er bei seinem ersten Essen in Freiheit auf die Nudeln hobeln lies, obwohl, wie jemand schneidend bemerkte, es gerade „nicht Saison“ sei.
Es stellt sich die Frage, ob die seit Wochen dauernde Debatte in Frankreich wirklich, wie es anfangs schien, heilsam gewesen ist und zur Klärung des Verhältnisses der Geschlechter beigetragen hat. Zum ersten Mal wurde in Frankreich das Erbe der Libertinage in Frage gestellt und öffentlich darüber debattiert, dass die Grenzen zwischen Verführung und sexueller Belästigung in Frankreich offensichtlich fließender scheinen als anderswo, vor allem in den Sphären der Macht. Zum ersten Mal schien das Gerede über das Sexualverhalten von Politikern, mit dem man bislang nur bei Abendgesellschaften auftrumpfen konnte, juristische Konsequenzen zu haben: Staatssekretär Georges Tron verlor sein Amt, weil seine berüchtigten Fussmassagen mitunter weiter gingen als nur bis zum Knöchel. Zwei Frauen erstatteten Anzeige. Auch das öffentliche Gerede des Philosophen Luc Ferry im Fernsehen über angebliche Sexorgien eines ehemaligen Ministers mit minderjährigen Jungs in Marokko blieb nicht folgenlos. Die französische Öffentlichkeit war empört über die Anschuldigung ohne Namen und kritisierte Ferry für seinen Auftritt.
Es war höchste Zeit, solche Fragen in der Öffentlichkeit zu debattieren und eine Entwicklung in Gang zu bringen, die vermutlich Generationen brauchen wird. Nur haben französische Feministinnen inzwischen das Gefühl, dass nicht DSK, sondern ihnen der Prozess gemacht wird. In einem Gastbeitrag für „Le Monde“ begrüßen Audrey Pulvar, eine bekannte Fernsehjournalistin, und Clementine Autain, dass der „bleierne Deckel“, der über diesen Fragen lastete, endlich gelüftet worden sei: „Wir haben die Tragweite und die Banalität dieser Verbrechen und Delikte entdeckt.“ Unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Verhaftung von DSK sei die Zahl der Anrufe auf einem Hilfetelefon für Vergewaltigungsopfer um 30 Prozent angestiegen. Geschätzte 75 000 Frauen werden jährlich in Frankreich vergewaltigt – doch nur ein Bruchteil von ihnen erstattet Anzeige. Die Banalität des Bösen, die sich sonst gern hinter Zahlen verbirgt, ist zum ersten Mal anschaulich geworden.
Doch sollte es zur Einstellung des Verfahrens in den USA kommen, und auch die Anzeige von Tristane Banon ohne Folgen bleiben, so fürchten nicht nur die Autorinnen, hätte das einen Backlash zur Folge, weil den Aussagen von Opfern dann vermutlich noch weniger Glauben geschenkt wird als ohnehin schon. „Wir wollen nicht daran glauben“, konstatieren Autain und Pulvar trocken.
In noch einer letzten Hinsicht kann die Affäre als Lehrstück dienen. Man kommt nicht umhin, die Begegnung von Dominique Strauss-Kahn und Nafissatou D. als Klassendrama zu lesen, in dem Reich gegen Arm antritt, Weiß gegen Schwarz, Mann gegen Frau. Denn die Anschuldigung versuchter Vergewaltigung gegen einen Prominenten hätte in Frankreich, da sind sich alle einig, nicht zu denselben Konsequenzen geführt wie in den USA. Die Art und Weise, wie DSK von der politischen und intellektuellen Elite des Landes verteidigt wurde, hat den Franzosen überdies vor Augen geführt, wie die Klassengesellschaft noch immer à l’ordre du jour ist: die Rede vom „Schenkelrecht“, vom „Bespringen der Domestiken“ und schließlich das vermeintlich versöhnende Wort Jacques Langs, dass schließlich „kein Mann zu Tode gekommen“ sei, zeugen deshalb nicht nur von beunruhigend anachronistischem Sexismus, sondern mehr noch davon, dass Frankreich eine Gesellschaft ist, in der die Elite sich auf gefährliche Weise von der Basis entfernt hat. „Die da oben“ und „wir da unten“ sind weiter auseinandergedriftet als anderswo. Deswegen haben die Verteidiger von DSK seine Verhaftung als Klassenfrage begriffen. Bernard-Henri Levy ging so weit zu behaupten, DSK sei wegen seiner Klasse vorverurteilt worden. Lévy irrt an dieser Stelle gewaltig: nicht wegen seiner Klasse hätte man DSK den Prozess gemacht, sondern trotz seiner Klasse und seines Geldes. Es stellt sich die Frage: Wird der wacklige soziale Frieden Frankreichs durch Verfahren gestört werden, die in der Person von DSK auch der Elite Frankreichs den Prozess macht?