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Auf dem Weg nach Brüssel: Katarina Barley (SPD)
© AFP/Odd Andersen

Wer folgt auf Katarina Barley?: Das Justizministerium muss wiedererweckt werden

Klimaschutz, Datenschutz, Digitalisierung, Kinderrechte - alles auch Themen fürs Justizministerium. Höchste Zeit, dass die Nachfolgefrage geklärt wird. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Es wird Zeit. Dass Katarina Barley nach Brüssel wechseln würde, war schon länger klar, seit Oktober vergangenen Jahres. Da wurde sie zur sozialdemokratischen Spitzenkandidatin für die Europawahl gewählt. Darum hatte Barley direkt nach der Wahl Ende Mai Bundeskanzlerin Angela Merkel informiert, dass sie zum 1. Juli als aus dem Kabinett ausscheiden werde. Denn am 2. Juli konstituiert sich das neue Europaparlament, dann endet Barleys Ministerzeit, und die Satzung des EU-Parlaments verbietet eine Doppelfunktion. Und wer, wenn nicht die Justizministerin, die scheidende, wird sich an geltendes Recht halten.

So viele Monate sind ins Land gegangen, das Ende war absehbar – und doch ist immer noch ist nicht klar, wer Bundesministerin für Justiz und Verbraucherschutz wird? Als wäre das Amt nicht so wichtig, wie man es nehmen sollte. Nicht nur, dass es mit Innen, Außen, Finanzen und Verteidigung zu den sogenannten klassischen Ressorts einer Regierung gehört – neben dem für die Finanzen ist es das zweite Veto-Ministerium. Das sichert diesem Ressort einen politischen Einfluss, der nur zu gern unterschätzt wird.

Paragraphen und Paraphen - und viel mehr

Wahrscheinlich, weil sich mit dem Justizministerium – seit 2013 auch für den Schutz der Verbraucher zuständig – immer das Bild papierner Politik verbindet: Paragraphen und Paraphen in Akten als höchster Ausdruck von Leidenschaft. Wie wenig das stimmt, zeigt nur schon ein Blick in die Ahnengalerie, angefangen beim ersten Justizminister, Thomas Dehler, im Jahr 1949.

Bis heute ist Dehler eine Ikone der FDP. Wie er sich mit Konrad Adenauer gestritten hat! Umstritten war der Vollblutjurist auch, aber als leidenschaftlicher Streiter für die Freiheit in allen Bereichen der Gesellschaft. Nicht zuletzt ihm schreibt das Justizministerium selbst durchaus mit Stolz zu, dass die heutige Rechtsordnung „von dem gedanklichen Unrat der Nazis entsorgt und das alte Recht mit dem jetzt maßgebenden Grundgesetz in Einklang gebracht“ wurde. Und dass so schnell das Bundesverfassungsgericht und die Obersten Gerichtshöfe des Bundes entstanden. Wie wichtig diese Gerichte sind – die Politik klagt heute gerne mal darüber.

Hier wurden große Themen verhandelt

Klingende Namen verbinden sich mit dem Ressort, etliche Entscheidungen von Bedeutung sowieso. Sozialdemokrat Gustav Heinemann leitete die oberste deutsche Justizbehörde für zwei Jahre, bevor er zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Horst Ehmke, bis er Willy Brandts Chef  des Kanzleramts wurde. Hans-Jochen Vogel prägte das Ministerium für Jahre, in die lange Amtszeit Hans A. Engelhards von der FDP fielen die Wiedervereinigung und die erste gesamtdeutsche Wahl.

Dann kam Klaus Kinkel, dessen Hauptverdienst die verfassungsrechtliche und justizpolitische Bewältigung der Einheit war. Und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger als erste Frau, gleich zweimal Justizministerin. Streitbar auch sie, wie Helmut Kohl als Kanzler und ihre Partei, die FDP, erlebten. Die Gefahr der Einschränkung von Bürgerrechten war ihr Thema.

Ein stolze Ahnenreihe, und sie ist nicht einmal vollständig. Eine, die verpflichtet, Amtsinhaber wie Regierungschefs, das Justizministerium ernst zu nehmen. Gerade jetzt. Einmal, weil die Liste wichtiger Aufgaben ist lang ist. So geht es darum – wie Verbraucherschützer mahnen –, zügig für mehr Transparenz und Kontrolle in der digitalen Welt, für bezahlbares Wohnen und einen besseren Schutz vor Kostenfallen einzutreten.

Doch auch Verzögerungen anstehender Reformprojekte wären von Übel, etwa bei der Reform der Strafprozessordnung. Insofern hat Klaus Müller, Vorstand des Verbraucherzentrale-Bundesverbands, recht, es „merkwürdig und ärgerlich“ zu finden, dass Barleys Nachfolge so lange auf sich warten lässt.

Es läuft auf den 28. Juni zu

Denn es warten Herausforderungen und Chancen, nicht allein für eine Legislaturperiode: Klimaschutz, Datenschutz, Tierrechte, Kinderrechte, dazu die Folgen der Digitalisierung; die Generalthemen Bürgerrechte und Menschenrechte – alles benötigt fachliche, sachliche, juristische Begleitung. Und nicht zu dekretieren, sondern zu argumentieren, warum Neues im Grundgesetz nichts oder doch etwas zu suchen hat, kann zu großer Gesellschaftspolitik gerinnen.

Zumal im Grundgesetz ein Artikel die Diskussion über Renovation mit anschließender Volksabstimmung ermöglichen würde. Wenn der politische Wille dazu da ist. Ratsam wäre, das zu flankieren durch jemanden, die oder der von Amts wegen in Beweisketten und Plausibilitäten denkt, zurückgelehnt, unideologisch. Besonders in diesen aufgeregten, disruptiven Zeiten.

Da gerät das Justizministerium wie von selbst in den Blickpunkt. Wer es übernimmt, ist keine Randfigur, die Besetzung nicht irgendeine. Merkel hat Barley gebeten, so lange zu bleiben, bis die Nachfolgerin vereidigt ist. Am 28. Juni endet die letzte Sitzungswoche im Bundestag vor der Sommerpause, und dort findet die Vereidigung statt. Die kommissarischen SPD-Chefs Manuela Schwesig, Malu Dreyer und Thorsten Schäfer-Gümbel wollen gemeinsam über die Barley-Nachfolge entscheiden – „in der nächsten Woche“. Zeit wird’s in jedem Fall.

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