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Ermittler des Internationalen Strafgerichtshofs arbeiten 1996 nahe Tuzla in Bosnien-Herzegowina an einem Massengrab, in dem Opfer des Massakers von Srebrenica liegen.
© Staton R. Winter/AP/dpa

UN-Gerichtshof in Den Haag: Das Jugoslawien-Tribunal - eine Bilanz

Das UN-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag war für die internationale Justiz ein Riesenschritt. Jetzt schließt dieser Gerichtshof. Worum ging es und was kommt danach?

161 Angeklagte, fast 11 000 Prozesstage, sechs Mal die Höchststrafe: Lebenslang. Das UN-Kriegsverbrechertribunal zum früheren Jugoslawien ist ein Gericht der Superlative. An diesem Mittwoch spricht es sein letztes Urteil. Fast ein Vierteljahrhundert nach seiner Gründung kann das Den Haager Gericht eine positive Bilanz ziehen.

Was ist das „Jugoslawien-Tribunal“ in Den Haag?

Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag wurde im Mai 1993 durch eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen ins Leben gerufen. Im Juni 1991 hatten mit dem kurzen Slowenienkrieg die Zerfallskriege zwischen den Teilrepubliken Jugoslawiens begonnen. Durch das Ende des Kalten Krieges schwand die Unterstützung der Machtblöcke für Jugoslawien, das in eine wirtschaftliche Krise stürzte. Serbien behauptete für sich ökonomische wie „ethnische“ Suprematie.

Ab 1991 löste sich mit Kroatien, Mazedonien und Bosnien eine Teilrepublik nach der anderen von der Titularnation ab und forderte Eigenstaatlichkeit. Der Bosnienkrieg forderte mit seinen „ethnischen Säuberungen“ durch serbische Armee und Milizen 100 000 Tote. 3,5 Millionen Menschen flüchteten vor den Kriegen. Das ICTY war zuständig für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Kroatienkrieg von 1991 bis 1995 und im Bosnienkrieg von 1992 bis 1995. Nach dem Kosovokrieg von 1999 wurden auch Taten aus dieser Phase der Zerfallskriege geahndet. 2001, nach gewaltsamen Konflikten in Mazedonien, gelangten dortige Verbrechen unter die Zuständigkeit des ICTY.  

Wer hat das ICTY erfunden?

Mirko Klarin ist der eigentliche Urheber des Tribunals. Schon im Mai 1991 warnte der jugoslawische Journalist, geboren 1943 in Kroatien, vor einem aufziehenden Krieg. In seinem Artikel „Nürnberg jetzt!“ rief er in Belgrad zu einem Tribunal gegen die rassistische Hetze von Politik und Medien auf. Traumatisches Konfliktmaterial vor allem aus dem Zweiten Weltkrieg, das im Tito-Jugoslawien unverarbeitet geblieben war, wurde manipulativ zur Stereotypisierung von Bevölkerungsgruppen verwendet. Klarin forderte dafür einen Internationalen Strafgerichtshof. Würde man die Hetzer jetzt vor Gericht stellen, ließe sich der Krieg verhindern, den sie anzettelten. Vergeblich suchte der Mahner Gehör bei hohen Amtsträgern in Brüssel und London. Als der Krieg ausbrach, besannen sie sich. In UN-Dokumenten zum ICTY wird Mirko Klarin als zentraler Ideengeber der Institution genannt. Über die Kriege, die er verhindern wollte, berichtete er dann jahrelang aus dem Haager ICTY-Gebäude für seine Agentur „Sense“.

Wen hat das ICTY verurteilt?

Zu Beginn seiner Tätigkeit hatte das Tribunal eher kleine Fische am Haken, Täter mit niedrigen Rängen. Die Anklagebehörde – also die Staatsanwaltschaft – musste anfangs um Telefonanschlüsse, um Personal und Geldmittel kämpfen. Sie war zugleich konfrontiert mit dem Unwillen der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien, mutmaßliche Täter an das Tribunal zu überstellen. Von „Überstellen“ statt von „Ausliefern“ ist die Rede, da es bei der internationalen Justiz nicht um das Ansinnen eines Landes geht, dass eine tatverdächtige Person aus einem Land ins anderen ausgeliefert wird, sondern dass eine Person innerhalb der internationalen Rahmens überstellt wird, in dem alle Staaten versammelt sind.

Im Lauf der kommenden Jahre folgten die Mammutprozesse gegen die Kriegstreiber wie den serbischen Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic, den ehemaligen Kopf der bosnischen Serben Radovan Karadzic oder den vor wenigen Tagen zu lebenslänglicher Haft wegen Völkermords verurteilten General der bosnischen Serben, Ratko Mladic. Mladic war der Hauptverantwortliche des Massakers von Srebrenica, bei dem im Sommer 1995 über 8000 bosnisch-muslimische Jungen und Männer im Zuge „ethnischer Säuberung“ ermordet wurden. Kein Rang, keine Hierarchiestufe war immun gegen Strafverfolgung.

Insgesamt hat das Tribunal Anklage gegen 161 Personen erhoben – darunter Premierminister, Minister, Generäle,  Stabschefs und andere hochrangige Personen. Ihnen wurde die Verantwortung für tausende Tote und für das Leid der überlebenden Opfer zur Last gelegt. 84 der Angeklagten - 60 Serben sowie einige Kroaten, Kosovo-Albaner und Bosniaken - wurden verurteilt. Das Tribunal verfügt über ein Untersuchungsgefängnis mit hohem, humanitärem  Standard. Haftstrafen büßen Verurteilte in Staaten ab, mit den das ICTY Abkommen hat, darunter Schweden, Großbritannien und Deutschland.

Worum ging es in den Prozessen?

Es ging um Mord, Massenmord, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, um Folter, Misshandlung, Vertreibung und Verfolgung. 2008 anerkannte die Uno, auch aufgrund der Prozesse am ICTY, Vergewaltigung als Kriegsverbrechen. 30 der 84 ergangenen Urteile beinhalten sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen, so das Urteil gegen Duško Tadić, das erste jemals, das auch sexuelle Gewalt gegen Männer nennt, das Urteil gegen Anto Furundžija, das hauptsächlich auf diesem Klagepunkt basiert. In den Urteilen gegen Zdravko Mucić, Hazim Delić und Esad Landžo wurde zum ersten Mal im internationalen Strafrecht sexuelle Gewalt als Tatbestand der Folter erkannt.

Globale Aufmerksamkeit erhielten auch Fälle, bei denen Verantwortliche für Gräueltaten in Lagern wie Omarska, Keraterm und Trnopolje zur Rechenschaft gezogen wurden, in denen serbische Täter nicht-serbische Opfer misshandelten und ermordeten. Dutzende  Orte stehen heute für jeden in Ex-Jugoslawien für Verbrechen, nicht nur Srebrenica und Sarajewo, sondern auch Bratunac, Brčko, Čelebići, Foča, Prijedor oder Zvornik.

In allen Fällen, die zur Verurteilung führten, wurden die Genfer Konvention missachtet. Momir Nikolić, angeklagter Kommandeur einer am Massaker von Srebrenica beteiligten Brigade, der bereit war, auch als Zeuge auszusagen, erklärte den Richtern am 25. September 2003: „Glauben Sie wirklich, dass sich jemand an Recht, Regeln und Konventionen hielt, wo so viele Menschen ermordet wurden? […] Sie wurden alle gefangen, umgebracht, vergraben, wieder ausgegraben und nochmals verscharrt. Niemand hielt sich an die Genfer Konvention.“ 

Unter die Kategorie der Kriegsverbrechen fielen auch Taten wie die Belagerung und der Artilleriebeschuss von Sarajewo, die Zerstörung der Bibliothek von Sarajewo und die der 1566 erbauten Brücke von Mostar. Marksteine waren auch der Beschuss des historischen Zentrums der Altstadt von Dubrovnik zu Beginn des Krieges, im Dezember 1991, und die Artillerieangriffe auf Zagreb im Mai 1995, am Ende der Zerfallskriege. Mehrmals wurden Experten wie der in Harvard arbeitende András Riedlmayer in den Zeugenstand gerufen, die als Spezialisten für Kulturerbe aussagten. Vielerorts trachteten serbische Täter danach, mit der „ethnisch“ nicht erwünschten Bevölkerung auch die Erinnerung an die osmanische, muslimische oder katholisch geprägte Kultur einer Region auszulöschen.

Was bedeutet das ICTY für Opfer, Zeugen und Betroffene?

Zentral für die überlebenden Opfer, die Zeugen und deren  Umfeld ist die Tatsache, dass sie angehört wurden. Über 4000 Zeugen haben vor dem ICTY über Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes berichtet, über die Morde an ganzen Familien in deren Häusern, über in Brand gesteckte Dörfer, Gewalttaten an Männern, Frauen und Kindern, verweigerte Hilfsgüter, zerstörte Katasterämter und gewaltsam erzwungene Flucht in kilometerlangen Trecks. In einigen Fällen erhielten Überlebende von den Tätern vor Gericht Auskunft über das Los ihrer getöteten Verwandten, so Habiba Hadžić, die vom Angeklagten wissen wollte, wo ihre Kinder, die Söhne Enis und Bernis starben. Sie kannte den Täter, er kannte sie und ihre Söhne: „Ich möchte Dragan fragen, wo sie sind, in welchem Massengrab, damit ich sie würdig bestatten kann. Dragan Nikolić erinnerte sich erfahren zu haben, dass ihre Söhne zusammen mit vierzig anderen in einem Ort namens Debelo Brdo „liquidiert“ wurden.

Die Zeugin Teufika Ibrahimefendić, eine Therapeutin, die mit Opfern von Gräueltaten arbeitet, erklärte, das Tribunal habe enorme Bedeutung für alle, mit denen sie gearbeitet hat. Es gebe vielen den Mut, ihre Aussagen zu machen und die Hoffnung auf Gerechtigkeit. Immer wieder wurden aber auch Fälle bekannt, in denen Zeugen vor ihrer Aussage eingeschüchtert oder sogar ermordet wurden. Der deutsche Spielfilm „Sturm“ von Christian Schmidt zeichnet ein realistisches Bild solcher Erpressungen und Verstrickungen.  

Was ist der größte Verdienst des ICTY?

Neben den Urteilen, von denen einige Meilensteine der Rechtsgeschichte darstellen, ist ein enormer Verdienst das unabhängige Etablieren einer Datenbasis zu Krieg und Kriegsverbrechen. Abertausenden Stunden der Ermittlungsarbeit und Beweisführung brachten tausende öffentlich zugänglicher Prozessakten hervor, in denen Tathergänge rekonstruiert sind. Per Videofilm und Trankskript wurden Anklagen, Aussagen und Plädoyers festgehalten, archiviert sind militärische Abhörprotokolle, akribisch dokumentiert wurden Tatortfunde, das Exhumieren der Massengräber und zahllose weitere Artefakte als Beweise. Damit entstand eine beispiellose Datenbasis als Archiv nicht nur für die Gegenwart sondern für kommende Generationen, die sich mit mehr Distanz zu den nachhallenden Nationalismen und Traumata der Wahrheit widmen können. Ihre Grundlage ist gesichert.  (Für einen Zugang zu den Dokumenten klicken Sie bitte hier.)

Was war der größte Misserfolg des ICTY?

Höchstwahrscheinlich der nicht zuende gebrachte Prozess gegen Serbiens Ex-Präsident Slobodan Milošević. Anklage gegen ihn erging am 27. Mai 1999 zunächst wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, später kamen unter anderem Verstöße gegen die Genfer Konventionen und Völkermord dazu. 2001 überstellte Serbien den Gesuchten nach Den Haag, 2002 begann sein Prozess. Aus drei einzelnen Anklagen für Bosnien, Kroatien und Kosovo machte die Staatsanwaltschaft eine einzige, gigantische Klageschrift, wodurch sich der Prozess über Jahre hinzog. Am 11. März 2006 fand man den Herzkranken tot in seiner Zelle in der Untersuchungshaft. Er starb, ohne verurteilt worden zu sein.

Was sind die Argumente der ICTY-Kritiker?

Carla del Ponte, langjährig amtierende Chefanklägerin, sagte einmal: „Serben halten das Tribunal für antiserbisch, Kroaten für antikroatisch und Bosniaken für antimuslimisch. Irgendwas machen wir richtig!“ Ihre Aussage war nicht falsch, doch die massivsten Ressentiments gegen das ICTY hegen zweifellos serbische Nationalisten. Nicht zuletzt deshalb, weil etwa ausgerechnet der hochrangige, kroatische General Ante Gotovina, 2011 verurteilt zu 24 Jahren Haft, nach seiner Berufung 2012 von allen Anklagepunkten freigesprochen wurde. Bei einer Umfrage von 2011 erklärten 66 Prozent der Serben, das Tribunal sei überflüssig, nationale Gerichte sollten zuständig sein. Verbreitet sind bei Serbiens Nationalisten  Verschwörungstheorien zur Nato, die mit dem Tribunal gemeinsame Sache mache. In allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien war man erstaunt bis enttäuscht über die Dauer internationaler Strafprozesse.   

Wie geht es weiter, wenn das ICTY jetzt schließt?

Für die noch ausstehenden Berufungen, zu denen auch die des verurteilten Ex-Generals Ratko Mladic gehören wird, wurde bereits 2010 die Interims-Institution MICT (Mechanism for International Criminal Tribunals) gegründet, die Pflichten und Aufgaben des ICTY fortsetzen wird. MICT wird sich um alle anhängigen Verfahren kümmern und, wie das ICTY selber, mit den nationalen Gerichten kooperieren, die ihrerseits Prozesse wegen Kriegsverbrechen angestrengt haben.

Was hat das Tribunal im internationalen Recht bewirkt?

Seit es das ICTY gibt hat es als Vorbild für das Entstehen weiterer Tribunale gedient, darunter die Tribunale für Ruanda, der Sondergerichtshof für Sierra Leone und den permanenten Internationalen Strafgerichtshof. Juristen, Juraprofessoren, Anwälte, Staatsanwälte und Richter aus allen Kontinenten sind nach Den Haag gereist, um Anschauungsunterricht in Verfahren  internationaler Justiz zu erhalten. Enge Zusammenarbeit gab es auch zwischen dem ICTY und den regionalen Gerichten der Länder, aus denen die Angeklagten kamen.    

Was unterscheidet das ICTY vom Internationalen Strafgerichtshof und was sind Internationale Strafgerichtshöfe?

Die Pioniere der heutigen internationalen Strafgerichtshöfe waren die Tribunale von Nürnberg und Tokio nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Grundgedanke der internationalen, alliierten Justiz war es, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie der Völkermord an den Juden Europas, nicht ungesühnt bleiben dürften. Auch sollte einer Kollektivschuld der Gesamtbevölkerung entgegengewirkt werden, sondern das Konzept der individuellen, kriminellen Verantwortung greifen. Darauf basiert auch die aktuelle Rechtspraxis internationaler Tribunale. Unterschieden wird zwischen Adhoc-Tribunalen, deren Aufgaben regional und zeitlich begrenzt sind, wie im Fall Ruanda oder Ex-Jugoslawien, und dem permanenten Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag, das als die Welthauptstadt des internationalen Rechts gilt. Am ICC, der seine Arbeit im Juli 2002 aufnahm, und kein Organ der Uno, sondern eines der Vertragspartner ist, wurden bisher nur Fälle aus afrikanischen Staaten verhandelt, was in Afrika teils kritisch gesehen wird. 

Der Regierungssitz der Niederlande beherbergt darüber hinaus auch den 1945 gegründeten Internationalen Gerichtshof (ICJ) im Friedenspalast. Er ist das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen und kein Strafgerichtshof. Dort geht es unter anderem um Territorialstreitigkeiten zwischen Staaten, die dort als Kläger oder Verklagte die Akteure sind.

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