Brandenburgs Ministerpräsident im Interview: "Das hätte nie passieren dürfen"
Der SPD-Politiker Dietmar Woidke über das Staatsversagen im Pharmaskandal, den Vormarsch der AfD im Osten und die Ausschreitungen von Chemnitz. Ein Interview.
Die Ausschreitungen in Chemnitz entsetzen die Republik. Kann so etwas in Brandenburg auch passieren – dass ein brauner Mob Menschen durch die Straßen jagt?
Ich hoffe nicht. Wir haben in Brandenburg eine über viele Jahre gewachsene starke Zivilgesellschaft, die sich rechtsextremen Umtrieben immer wieder entgegengesetzt hat. So haben wir die Nazis zum Beispiel aus Halbe vertrieben, in Potsdam kriegen sie keinen Zentimeter auf den Boden. In Chemnitz hat der Tod eines Menschen die Bevölkerung in Unruhe versetzt. Rechte Hetzer und Gewalttäter haben das ausgenutzt und leider Mitläufer gefunden. Der Rechtsstaat muss immer stark sein, ob gegen gewalttätige Rechtsextreme oder gegen Straftaten von Flüchtlingen. Das erwarten die Menschen zu Recht von uns.
Sind die Brandenburger weniger fremdenfeindlich als die Sachsen?
Wir stellen uns nicht über andere. Wir haben keinen Hehl daraus gemacht, dass es in Brandenburg Rechtsextremismus gibt. Das war auf der Regierungsebene in Sachsen deutlich anders. Wir haben in Brandenburg die Auseinandersetzung aufgenommen unter anderem, mit dem Regierungsprogramm „Tolerantes Brandenburg“, mit einem breiten gesellschaftlichen Bündnis, was sich nach wie vor bewährt. Trotzdem kann man nie ausschließen, dass auch wir in Schwierigkeiten kommen können, wenn es schwere Gewalttaten gibt und rechte Hetzer mobil machen.
Warum laufen so viele Menschen im Osten Rechtspopulisten oder gar Rechtsextremisten hinterher?
Es ist nicht nur ein ostdeutsches Problem – und nach Chemnitz kamen viele auch aus westdeutschen Ländern. Viele Menschen in ganz Deutschland sind seit der Flüchtlingskrise 2015 verunsichert. Wir haben versucht, den Brandenburgern das Gefühl der Unsicherheit zu nehmen, indem wir das Integrations-Bündnis gegründet haben und auch als Regierung und Parlament Haltung zeigen. Da ist bei uns auch die CDU dabei. Menschen zusammenzubringen ist ein wichtiges Ziel. Gegen die Verunsicherung hilft es auch, wenn die Menschen den Staat als stark und durchsetzungsfähig erleben. Das schwächt Rechtspopulisten und Rechtsextremisten.
Da wir bei Erwartungen an den Staat sind: Beim Pharma-Skandal um illegalen Handel mit gestohlenen und vielleicht unwirksamen Krebsmedikamenten haben Brandenburgs Aufsichtsbehörden nicht funktioniert. Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?
Was passiert ist, hätte nie passieren dürfen. Und schon gar nicht in einem so hochsensiblen Bereich. Ministerin Diana Golze hat dafür die politische Verantwortung übernommen und ist zurückgetreten. Wir werten nun den kritischen Bericht der Task Force gründlich aus, um schnell die Fehler abzustellen. Klar ist: Wir werden das Personal in der Behörde verstärken, die organisatorischen, strukturellen und kommunikativen Abläufe bei der Pharma-Aufsicht verbessern.
Kann Brandenburg das Problem alleine lösen?
Ich habe schon Ende Juli gesagt: Wir haben es in Teilen offenbar mit organisierter Kriminalität zu tun, die über Landesgrenzen hinweg in mehreren Ländern Europas operiert. Wir müssen in Deutschland, aber auch auf europäischer Ebene darüber nachdenken, wie die Patienten besser geschützt werden, wie wir ein adäquates Kontrollsystem bekommen, damit so etwas nicht wieder passiert. Wir werden darüber mit dem Bundesgesundheitsministerium und auch anderen Bundesländern beraten. Wir wollen spätestens Anfang 2019 eine eigene Initiative zum besseren Patientenschutz aus Brandenburg in den Bundesrat einbringen.
Genügt das, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen? Oder glauben Sie, dass die Brandenburger das bis zur Wahl in einem Jahr schon wieder vergessen haben?
Wenn ich für sichere Medikamente kämpfe, dann tue ich das nicht, um eine Landtagswahl zu gewinnen, sondern, weil es nötig ist: Dazu müssen wir zuallererst dafür sorgen, dass die Aufsicht durch das Land gut funktioniert.
Sie sind fünf Jahre im Amt. In dieser Legislaturperiode haben sie Ihre Kreisreform absagen müssen, fünf Minister verloren, jetzt noch der Pharmaskandal. Mehr kann eigentlich nicht schiefgehen, oder?
Ich verhehle nicht, dass einiges hätte besser laufen können. Was die Minister betrifft, sollte man es allerdings nicht so hinstellen, als habe es fünf Rücktritte wegen Skandalen oder Fehlverhalten gegeben. Bei den SPD-Ministern Sabine Kunst, Günter Baaske und Albrecht Gerber waren es rein persönliche Gründe. Entscheidend ist ohnehin: Das Positive überwiegt. Und mit Jörg Steinbach, dem früheren Präsidenten der TU Berlin, haben wir jetzt einen ausgezeichneten Nachfolger für Albrecht Gerber. Er hat richtig Lust, anzupacken.
Was ist denn das Positive?
Brandenburg hat sich hervorragend entwickelt, steht wirtschaftlich und finanziell so gut da wie nie. Es ist die erfolgreichste Zeit in der Geschichte des Landes. Sicher, wir haben politisch eine andere Situation, nicht nur in Brandenburg. Rechtspopulisten legen in Deutschland zu, vergiften die Stimmung und säen Hass. Ich bin dennoch fest davon überzeugt, dass wir nächstes Jahr wieder deutlich stärkste Partei werden.
Warum eigentlich? In den Umfragen liegt die SPD mit 22 oder 23 Prozent nur noch knapp vor der AfD. Noch nie stand Ihre Partei in Brandenburg so schlecht da wie jetzt…
Weil wir die richtigen Antworten geben können, wenn sich die Menschen fragen wie sich das Land entwickelt hat und zukünftig entwickeln soll. Und weil in diesen unruhigen Zeiten, in denen auch international so viel passiert, für Menschen Stabilität wichtiger ist. Diese Stabilität gibt es in Brandenburg nur mit der SPD. Regierungskoalitionen anderer Parteien ohne die SPD, die da in den letzten Monaten rauf und runter diskutiert wurden, sind alles Mögliche, aber eins sind sie nicht – stabil.
Dietmar Woidke der Garant von Stabilität und Sicherheit – damit wollen Sie in den Wahlkampf ziehen?
Jetzt machen Sie mal halblang. Ich werde den Menschen sagen, dass sie das Erreichte selbst erarbeitet haben. Und dass die SPD in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten den richtigen Rahmen gesetzt hat. Darauf können die Menschen, aber auch die Brandenburger SPD stolz sein!
Wenn sich die Brandenburger CDU nach der Wahl mit der Linkspartei zusammentut, ist das Ende der jahrzehntelangen SPD-Herrschaft im Land ganz schnell da…
Das macht mir nun wirklich keine Angst, denn diese Debatten sind abstrus. Jeder weiß doch, wie weit die Einstellungen und Positionen dieser beiden Parteien auseinanderliegen. Wenn die Schnittmenge in den politischen Zielen kleiner als zehn Prozent ist, dann kann es von vornherein nicht laufen. Die ganze Debatte hilft der SPD. Denn sie verunsichert sowohl die Anhängerschaft der Linken als auch die der CDU.
Wie konnte die SPD in ihrem Stammland im Osten derart in Bedrängnis geraten?
Naja, immerhin liegen wir noch deutlich über dem Bundestrend. Aber ich will nichts beschönigen. Wir haben eine neue politische Situation. Rechtspopulisten legen in Deutschland zu, und sie vergiften die Stimmung. Brandenburg ist keine Insel. Die Zeiten sind für die Partei insgesamt schwieriger geworden. Eine wichtige Rolle spielt auch die schlechte Performance der SPD im Bund in den Monaten nach der Bundestagswahl.
Machen SPD-Chefin Andrea Nahles und Vizekanzler Olaf Scholz genug, damit die SPD im Bund wieder auf die Beine kommt?
Ich habe mich über ihren jüngsten Vorschlag gefreut. Wir müssen jetzt in der Rentendebatte weiter unser sozialpolitisches Profil schärfen. Es ist völlig richtig, dass wir nun das politische Ziel ausgeben, das Rentenniveau über das Jahr 2025 hinaus zu sichern. 2025 – das ist doch schon Übermorgen. Wer heute arbeitet, will Klarheit, wie es mit seiner Rente aussieht. Ein Staat, der so reich ist wie Deutschland, kann und sollte es sich leisten, das Rentenniveau auf mindestens 48 Prozent dauerhaft zu sichern. Die SPD muss wieder die Partei der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wieder die Partei der so genannten kleinen Leute werden, die aber Großes leisten – und einige gar mehr als mancher Dax-Millionär.
Ist es denn glaubwürdig, wenn Finanzminister Olaf Scholz erst monatelang die Schwarze Null verteidigt und dann Rentenversprechen verlangt, ohne zu sagen, wie die finanziert werden sollen?
Mir geht es um die Sache. Wenn Sie die Unsicherheit in der Gesellschaft bekämpfen wollen, müssen Sie für stabile Rahmenbedingungen sorgen. Der Staat zeigt, dass er handlungsfähig ist und dass die Menschen davon profitieren. Die SPD sollte auch eine Debatte über höhere Steuern für große Vermögen und Großverdiener führen. Kapitaleinkünfte sollten nicht mehr pauschal wie beim Billigheimer besteuert werden, sondern nach dem individuellen Steuersatz. Und ganz klar: Steuervermeider wie Amazon oder Facebook müssen auch in die Gesellschaftskasse einzahlen. Wenn die Schere zwischen denen, die wenig haben, und denen, die immer mehr verdienen, weiter auseinandergeht, gefährdet das den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Erstaunlich, dass ausgerechnet der Pragmatiker Dietmar Woidke der SPD zu einem Linksruck rät…
Wie Sie wissen, steht unsere Landes-SPD nicht in dem Ruf, eine linksrevolutionäre Bewegung zu sein. Die Menschen erwarten aber von uns, dass wir das Machbare erreichen. Zum Beispiel, dass die letzten Mauern zwischen Ost und West endlich fallen, vor allem die Rentenmauer. Es spielt für die Stimmung in Ostdeutschland eine entscheidende Rolle, dass das Rentenrecht immer noch ostdeutsche Biografien benachteiligt. Das kann man 30 Jahre nach dem Fall der Mauer niemandem mehr erklären. 2025 ist deutlich zu spät. Die Angleichung muss schneller kommen. Da werden wir Druck machen. Vielen Menschen geht es schlicht um Eines: Gerechtigkeit! Mit diesem Motto lag Martin Schulz schon richtig, aber der Wahlkampf wurde schlicht vergeigt. Schade drum.
Wenige Monate vor der Landtagswahl im Braunkohleland Brandenburg wird die Kohlekommission von Bund und Ländern voraussichtlich ihre Empfehlungen vorlegen. Schießt die AfD durch die Decke, wenn die Kommission einen schnellen Ausstieg aus der Kohleförderung verlangt?
Nur zur Klarstellung: Das ist keine Kohlekommission, sondern die „Kommission für Wachstum, Strukturentwicklung und Beschäftigung“. Da bin ich kleinlich, denn Worte bestimmen die Inhalte! Zur Frage: Ein schneller Ausstieg wäre ein Desaster, ein wirtschaftliches, ein ökologisches und ein politisches. Schon bei der Bundestagswahl war die AfD in allen drei ostdeutschen Braunkohlerevieren sehr stark. Menschen vergessen es einem Politiker nie, wenn ihre Lebensgrundlagen infrage gestellt werden. Was glauben Sie, wie sie reagieren, wenn einer aus Berlin anreist und verkündet, die „dreckigen Kraftwerke“ und der ganze Braunkohleabbau müsste sofort dichtgemacht werden? Wir reden über 8000 direkte Arbeitsplätze allein in der Lausitz.
Was erwarten Sie von der Kommission?
Sie muss einen gangbaren Weg aufzeigen. Die ostdeutschen Reviere sind seit 1990 im Strukturwandel. Wir brauchen schnell gute Rahmenbedingungen, um den Menschen Perspektiven zu geben. Dafür brauchen wir ein Bundesgesetz analog zum damaligen Bonn-Berlin-Gesetz, in dem für jedes Revier unterstützende Maßnahmen des Bundes unverrückbar festgeschrieben werden – sei es bei der Infrastruktur, bei der Ansiedlung von Wissenschaftseinrichtungen und Behörden oder im Bereich der Wirtschaftsförderung.
Noch etwas könnte im Wahljahr Probleme schaffen: Was, wenn wieder einmal der BER-Eröffnungstermin platzt?
Stimmt: Es ist nach wie vor eine erhebliche Belastung, dass das größte Infrastrukturprojekt für Berlin und Brandenburg nicht fertig ist. Der Flughafenchef ist sehr optimistisch, dass wir die Inbetriebnahme 2020 schaffen werden. Es wird ja auch langsam Zeit. Und dem Flughafenchef vertraue ich. Er hat das gut vorangebracht.