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Neueste Steuerschätzung: Das große Zahlenorakel

Heute wird Finanzminister Wolfgang Schäuble die neue Steuerschätzung verkünden. Drei Tage haben die Steuerschätzer in Wismar gerechnet. Von den Zahlen hängt die Etatplanung ab. Wer aber sitzt eigentlich in der einflussreichen Runde?

Es gibt große Machtzentralen in Berlin, kleine Schaltzentralen, und dann ist da noch das Büro von Hartmut Hüsges im Bundesfinanzministerium (BMF). Der Ministerialrat leitet das Referat I A 6: Steuerschätzung. Er ist auch Vorsitzender des Arbeitskreises Steuerschätzungen, einer nicht ganz unbedeutenden Runde. Immer im Mai und November, seit fast 60 Jahren, tagt der Kreis – die Ergebnisse sind Richtschnur für die Haushaltspolitik in Bund, Ländern und Kommunen in den folgenden Monaten und für die Planung der nächsten Jahre. Muss man sparen, kann man mehr ausgeben, welche Entwicklungen hat man zu gewärtigen, bei der Einkommensteuer, der Körperschaftsteuer, der Gewerbesteuer? Bis hinab zur Sektsteuer reichen die Prognosen.

Wie ein Konklave

Dem Arbeitskreis gehört Hüsges seit 25 Jahren an, erst für das Bundeswirtschaftsministerium, seit einigen Jahren vertritt der promovierte Statistiker („Regressionsschätzung skalarwertiger Präferenzfunktionen für ökonometrische Entscheidungsmodelle“) das BMF. Die Runde beschicken auch die Finanzministerien der Länder, die Bundesbank, der Sachverständigenrat, die Kommunalverbände und fünf Wirtschaftsforschungsinstitute. Im Hintergrund rechnet das Fraunhofer-Institut und liefert Simulationsmodelle. Der Arbeitskreis ist das Orakel des Steuerstaates. Delphi ist in diesem Herbst in Wismar. Dort traf sich das Gremium am Dienstag zu seiner Novembersitzung. Die Mitglieder laden reihum ein, davor war man in Bremerhaven oder Weimar. Drei Tage haben die 30 Männer und Frauen hinter verschlossener Tür gerechnet, abgewogen und gestritten. Es hat etwas von einem Konklave. Nichts dringt nach draußen. An diesem Donnerstag wird Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) den Konsens verkünden.

Wachstumsprognose ist die Basis

Die entscheidende Zahl ist seit Mitte Oktober bekannt: die Wachstumsprognose der Bundesregierung. „Diese Eckwerte sind die Basis“, sagt Hüsges, der Kreis ist darauf per Geschäftsordnung verpflichtet, alle Einzelschätzungen müssen von dieser gesamtwirtschaftlichen Bewertung ausgehen. Einzelprognosen geben acht Teilnehmer ab: das BMF, die Forschungsinstitute, die Bundesbank, der Sachverständigenrat. Sie weichen trotz der Vorgabe voneinander ab, zum Teil sehr deutlich, jeder rechnet eben anders. Nur der Trend ist klar: Geht die Konjunktur runter, sinken die Einnahmen, geht sie rauf, kommt mehr herein. Natürlich spielen politische Erwartungen eine gewisse Rolle, doch Direktiven gibt es nicht, wird betont. Sie würden auch verpuffen, der Kreis ist dann doch zu groß. Die Mitglieder, erfahrene Statistiker und Finanzer, wissen die Unabhängigkeit, welche die Runde ermöglicht, zu schätzen. Hüsges lobt das „konsensuale Vorgehen“, mit dem extreme Ergebnisse vermieden werden. Kein Finanzminister habe es bisher geschafft, die Schätzer in seinem Sinn zu beeinflussen, heißt es von anderer Seite aus dem Kreis. Weder Hans Eichel, der beinahe nach jeder Steuerschätzung Sparprogramme umsetzen musste, noch Wolfgang Schäuble, von dem es heißt, er würde die vielen Zusatzeinnahmen der vergangenen Jahre gern im Keller verstecken, damit keiner sie ausgeben kann.

Orakel von Wismar, Teil 2

Natürlich liegen die Schätzer nicht immer richtig. Für 2001 etwa musste, als die Wirtschaft einzubrechen begann, die Schätzung vom Mai (480 Milliarden Euro) drastisch auf 459 Milliarden im November zurückgenommen werden, das tatsächliche Steueraufkommen lag dann nur bei 446 Milliarden. Dagegen waren die November-Schätzungen für 2004, 2007 oder 2009 nahezu Punktlandungen. „Wir haben jedoch unterschätzt, wie schnell wir 2010 wieder aus der Krise herausgekommen sind“, sagt Hüsges. Die Mai-Schätzung für 2015 lag bei 666,6 Milliarden Euro, die Schnapszahl dürfte sich nach der Korrektur der Wachstumsprognose nach unten nicht halten lassen. Womöglich kippt dann Schäubles Ziel der "schwarzen Null", des ersten Etats ohne neue Schulden seit 1969. Nach Informationen des "Handelsblatts" geht die Schätzung des Bundes allerdings nur von einem Minus von sechs Milliarden Euro gegenüber der Mai-Schätzung aus. Das würde das Koalitionsziel wohl nicht gefährden. Ökonomen nehmen an, dass sich das Wachstum zwar verringert, aber nicht einbrechen wird.
Kristina van Deuverden gefällt an dem Job vor allem jene Unabhängigkeit. Sie arbeitet beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und sitzt seit 1995 im Schätzerkreis. Wie alle in der eingeschworenen Gemeinschaft (manche waren Jahrzehnte dabei) hält sie sich an das oberste Gesetz: Verschwiegenheit nach außen, was die Zahlen betrifft. Stefan Anton vom Städtetag ist seit 2008 dabei. Ein Frischling sozusagen. Fragt man, was ihn an der Rechnerei reizt, spricht er von Verantwortung und Sorgfalt und lobt die Ernsthaftigkeit, mit der die Schätzer ihre Prognose erarbeiten. Auch er genießt die Abwesenheit von Politik am Tisch.

Seit 1955 wird im Konsens geschätzt

Die Steuerschätzer-Institution ist aus einem handfesten Krach heraus entstanden – zwischen dem einstigen Finanzminister Fritz Schäffer und dem Ifo-Institut. Der CSU-Politiker hatte 1954 ganz andere Erwartungen zu den Einnahmen aus einer Steuererhöhung als die Wissenschaftler in München. Damals gab es so heftigen Streit, dass man zur Beruhigung im Jahr darauf den Arbeitskreis ins Leben rief. Das Steuer-Orakel läuft stets nach dem gleichen Schema ab. Zuerst werden die Wachstumsprognosen erläutert, dann die Schätzvorschläge durchgegangen, die für die November-Runde erst in den drei Wochen davor erarbeitet wurden. „Das ist dann eine etwas hektische Zeit“, sagt Hüsges, denn zumindest für die großen Steuerarten können die Schätzer ihre Arbeit ja erst mit der Veröffentlichung der Wachstumsprojektion beginnen. Jede einzelne Steuerart wird durchgekaut. Eine wichtige Frage dabei: Welches Verhalten löst Änderungen im Steuerrecht aus? Wie reagieren Konsumenten auf eine angehobene Mehrwertsteuer? Zahlen die Unternehmen weniger Steuern, weil sich ein Paragraf im Körperschaftsteuergesetz geändert hat und ein Anreiz entstand, Geld ins Ausland zu bringen? Wie wirkt sich die Zunahme von Selbstanzeigen von Steuersündern aus? Manchmal dauern die Detaildebatten stundenlang. Man hat eben seine Erfahrungen. Mitte der 90er Jahre etwa sah der Kreis nicht ab, wie stark westdeutsche Vermögende die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit dem Aufbau Ost in Anspruch nahmen. Die Einnahmeausfälle waren deutlich höher als erwartet.

Länder bringen Praxiswissen ein

Die Länderleute bringen das Wissen der Steuerverwaltungen ein – „eine ganz wichtige Sache“, sagt Hüsges. Sie kennen die aktuelle Kassenentwicklung am besten, wissen Bescheid über die Veranlagungstätigkeit der Finanzämter, können am besten einschätzen, ob ein schlechter Monat bei der Körperschaftsteuer nur ein Momentanereignis war oder mehr. Selbst Einzelfälle kommen dann auf den Tisch. Etwa wenn ein Unternehmen zu einer saftigen Steuernachzahlung verdonnert wurde, 500 Millionen Euro, bisher nicht publik. Dann hebt schon mal ein Ländervertreter den Finger und weist – anonym natürlich – darauf hin, dass da bald eine halbe Milliarde Euro in die Staatskasse fließen wird. „Bei gewinnabhängigen Steuern ist die Unsicherheit immer größer“, weiß Hüsges. Manchmal gelte auch das „Prinzip Gefühl“, sagt er. Etwa bei der Energiesteuer. Wechseln mehr Autofahrer vom Benziner auf einen Diesel? Sparen sie generell mehr? Der Ölpreis spielt hier eine Rolle, aber welchen Wert legt man an? Und was macht der Dollar? Im Schnitt nimmt der Kreis hier die Daten der vergangenen vier bis sechs Wochen. Bei manchen Steuern orientieren sich die Schätzer an langen Zeitreihen und versuchen eine „plausible Fortschreibung“, wie Hüsges es nennt. Generell gilt: Man ist vorsichtig.

Dieser Text erschien in der "Agenda" vom 04. Oktober 2014 - einer neuen Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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