zum Hauptinhalt
Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
© REUTERS

Von der Leyen im Europäischen Parlament: Das falsche Spiel mit der Dankbarkeit

Polens Regierungspartei PiS fordert Entgegenkommen, weil sie von der Leyen angeblich zur Kommissionschefin gemacht hat. Das ist doppelt falsch. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Eine steile These macht die Runde: Ursula von der Leyen sei nur dank der Stimmen der polnischen und der ungarischen Nationalpopulisten im Europäischen Parlament zur Kommissionspräsidentin gewählt worden. Die PiS in Warschau betont in der Tat, alle ihre 26 Abgeordneten hätten für von der Leyen gestimmt - und da sie nur mit neun Stimmen Mehrheit gewählt wurde, sei das entscheidend gewesen. Ähnlich argumentiert Viktor Orbans Fidesz-Partei in Ungarn: alle 13 hätten von der Leyen unterstützt. Und auch das sei wahlentscheidend gewesen.

PiS und Fidesz verbinden diese Behauptung mit Forderungen, wegen des Abstimmungsverhaltens müsse die neue Kommissionspräsidentin ihnen nun entgegenkommen, wenn sie die Posten in der Kommission vergibt und die inhaltliche Ausrichtung festlegt. Anders gesagt: Die Behauptung, man habe für sie gestimmt, ist interessengeleitet.

Und nun scheinen die ersten Interviews von der Leyens den Befürchtungen Nahrung zu geben, dass sie den Rechtspopulisten in Polen, Ungarn und Italien zum Dank entgegenkommen möchte. Doch konziliant ist sie nur im Ton. In Ostmitteleuropa löse die Kritik der EU an Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit bei vielen Bürgern den Eindruck aus, Westeuropa behandele sie und ihre Länder wie Europäer zweiter Klasse, sagt die neue EU-Kommissionspräsidentin.

In den prinzipiellen Fragen – Verteidigung des Rechtsstaats, der Demokratie und freier Medien macht sie aber keine Abstriche. Der zuständige EU-Kommissar FransTimmermans beteuert, er sei sich mit von der Leyen beim Einsatz für Rechtsstaatlichkeit einig: „Die nächste Kommission wird unerbittlich die Rechtsstaatlichkeit in der ganzen Europäischen Union durchsetzen.“

Kommissionspräsidentin von Kazynskis Gnaden?

Die These von der wahlentscheidenden Rolle der Nationalpopulisten aus Ostmitteleuropa wird auch von den linken Kräften unterstützt, die nicht für von der Leyen gestimmt haben, darunter die deutschen Sozialdemokraten, die Grünen und die Linke. Auch bei ihnen ist dieses Verhalten von Interessen geleitet. Sie wollen die Wahl, die sie ablehnen, diskreditieren: von der Leyen sei eine Kommissionspräsidentin von Kaczynskis und Orbans Gnaden.

Doch alle diese Wortmeldungen sind zunächst nur unbelegte Behauptungen. Sicher wissen, wie die Europaabgeordneten der PiS und der Fidesz abgestimmt haben, kann niemand außer ihnen selbst. Denn es war eine geheime Wahl. Man kann allerdings die Plausibilität an Hand des Ergebnisses überprüfen. Die spricht dagegen, dass sowohl die Europaabgeordneten der PiS als auch die der Fidesz geschlossen für von der Leyen gestimmt haben.

Kein Grund, Polens Regierung entgegen zu kommen

Den Forderungen der PiS muss von der Leyen jedenfalls nicht entgegenkommen, sagt Josef Janning, EU-Experte des European Council on Foreign Relations (ECFR) dem Tagesspiegel. "Aus einem Votum für von der Leyen kann man keine Ansprüche auf Posten und Positionen ableiten." Janning teilt die Skepsis, ob es überhaupt stimmt, dass die PiS geschlossen für von der Leyen gestimmt hat. "Es kann sein, dass sie einzelne Stimmen von der PiS bekommen hat. Das werden wir aber nie verlässlich erfahren."

Janning kritisiert, dass die polnische PiS unrealistische Erwartungen habe, was die Kommissionspräsidentin für sie tun könne. "Die wollen den nächsten EU-Kommissar für Energiepolitik stellen und freie Hand haben, welche energiepolitischen Initiativen die EU verfolgen soll und welche nicht. Das kann von der Leyen ihnen nicht zusagen."

Die Zweifel beginnen jedoch bereits bei der Frage, ob die PiS überhaupt für von der Leyen gestimmt hat. Oder ob sie das nur im Nachhinein behauptet, um damit Forderungen zu begründen.

Zweifel, ob die PiS wirklich für von der Leyen stimmte

Von der Leyen erhielt 383 Stimmen, neun mehr als die 374, die sie mindestens gebraucht hätte für einen Sieg. Auf Grund der Äußerungen von Europaabgeordneten verschiedener Parteienfamilien zu von der Leyens Bewerbungsrede am Dienstag Vormittag und zum Abstimmungsverhalten ihrer Gruppen direkt vor und nach der Wahl ergibt sich folgendes Bild. Die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) hat 182 Stimmen und wollte geschlossen für von der Leyen stimmen. Die liberale Gruppe Renew Europe, 108 Stimmen, wollte nahezu geschlossen für die Kandidatin stimmen. In der Gruppe der europäischen Sozialdemokraten (S&D) wollten die meisten für sie stimmen. Die deutschen SPD-Europaabgeordneten, die angekündigt hatten, von der Leyen abzulehnen, gehörten zu einer Minderheit in der S&D. Nach Schätzungen auf Grund von Befragungen vor Ort stimmten zwei Drittel der 158 S&D-Abgeordneten von der Leyen.

Die mutmaßlichen Stimmen aus diesen drei Gruppen summieren sich auf gut 390 Stimmen. Zieht man einige Abweichler ab, erklären sich die 383 Stimmen für von der Leyen bereits ohne eine einzige der 26 PiS-Stimmen. Die 13 Fidesz-Stimmen sind hingegen in den EVP-Stimmen enthalten, da die Fidesz der EVP angehört.

Hinzu kommt: Die PiS hat am Wahltag selbst Zweifel gelegt, ob ihre spätere Behauptung stimmen kann. Ihr Abgeordneter Zdzislaw Krasnodebski erklärte nach von der Leyens Bewerbungsrede, mit der sie um Stimmen aus dem linken Spektrum im Europaparlament warb, dass diese Rede die PiS verärgert habe. So wie er sich äußerte, wurde die Kritik als Ankündigung verstanden, dass die PiS gegen von der Leyen stimmt. Auf Nachfrage des Tagesspiegel, welche Version denn nun die zutreffende sei - die scharfe Ablehnung von der Leyens vor der Wahl auf Phoenix oder die Behauptung nach der Wahl, die PiS habe geschlossen für von der Leyen gestimmt - antwortet Krasnodebski nicht.

"Die PiS pflegt positive Vorurteile über von der Leyen"

Josef Janning vom ECFR sagt: "von der Leyen hat nicht um PiS-Stimmen geworben, im Gegenteil. Also ist sie ihnen auch nichts schuldig." Die PiS schätzt von der Leyen nach seinem Eindruck falsch ein. Sie sehe die Bundesverteidigungsministerin, die sich für Nato-Truppen in östlichen Nato-Ländern eingesetzt habe. Sie sehen eine CDU-Politikerin, die sich nicht öffentlich für eine scharfe Austragung des Konflikts um Rechtstaat und Medienfreiheit zwischen der EU sowie Polen und Ungarn ausgesprochen hat. Sie sehen die mehrfache Mutter. "Die PiS pflegt das Vorurteil, dass von der Leyen in vielen Politikbereichen so ähnlich denke wie sie selbst."

Deshalb übersieht die PiS laut Janning für ein föderalistisches Europa eintritt. "Sie denkt europäischer als Merkel. Sie ist eine europapolitische Kohlianerin."

Für die EU beginnt eine neue Ära, sagt Janning- Die Zeiten, wo EVP und S&D gemeinsame die absolute Mehrheit im Europaparlament hatten und es fast immer eine Mehrheit für europäische Vorhaben gab, sind vorbei. von der Leyen werde die EU-Kommission "wie eine Minderheitenregierung führen" müssen und sich Mehrheiten für jedes Projekt suchen.

Die Kommission muss wie eine Minderheitsregierung vorgehen

Zunächst muss von der Leyen die Kommission zusammenstellen und die Aufgabengebiete an die Personen, die die Nationalstaaten für die Kommission nominieren, verteilen. In dieser Zeit - "bis in den Oktober hinein" - werde sie mit vielen Forderungen konfrontiert, warum der jeweils eigene Kandidat ein bestimmtes wichtiges Aufgabengebiet bekommen müsse. Und am Ende brauche sie eine Mehrheit im Parlament für ihre Kommission.

Ist die Kommission aber erst einmal bestätigt, "braucht sie keine feste Mehrheit mehr im Parlament". Vielmehr muss sie von Fall zu Fall sowohl eine Mehrheit im Rat der Regierungschef als auch im Parlament hinter sich bringen. "Und es ist noch nicht ausgemacht, wer die größere Klippe sein wird: Der Rat oder das Parlament?" Der Rat, sagt Janning, hat de facto ein Initiativrecht. Er kann der Kommission Aufträge für bestimmte Gesetzgebungen vorgeben. Das Parlament kann das nach heutiger Rechtslage nicht.

Zur Startseite