Kühnert für Kollektivierung: Das Ende vom Lied? Mehr Staat!
Die Mehrheit der Deutschen sieht Enteignungen skeptisch. Sie sind nicht gegen Gewinne, sondern für mehr Kontrolle und höhere Steuern. Ein Kommentar.
Das deutsche Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft ist offenkundig in einer Krise. Man muss nur das Etikett „Kapitalismus“ drauf kleben, und schon gewinnen Forderungen nach Kollektivierung, also Enteignung in erstaunlichem Tempo Sympathisanten. Erst sollten größere Wohnungsgesellschaften enteignet werden. Rund die Hälfte der Bürger war in Umfragen anfangs dafür. Nun will Juso-Chef Kevin Kühnert Konzerne wie BMW generell in Volkseigentum überführen und das Privateigentum an Mietwohnungen verbieten. Weht der Zeitgeist inzwischen so weit links? Und verhelfen solche Ideen einer rot-rot-grünen Regierung zur Macht?
Beim Berliner Volksbegehren kippt die Stimmung
Es kann auch ganz anders kommen. Das hängt davon ab, wie Gesellschaft, Medien und Parteien diese Debatten führen. 30 Jahre nach dem Untergang des real existierenden Sozialismus sind neue Generationen herangewachsen, die den Unterschied zwischen der idealistischen Theorie der Kollektivierung und der ernüchternden Praxis nicht aus eigener Anschauung kennen. Auch sie wollen mit Argumenten überzeugt werden. Offenbar geht das auch, wie die Entwicklung der Umfragen zur Enteignung großer Wohnungsunternehmen in Berlin zeigt. Nach mehrmonatigem Austausch über das Für und Wider ist die Zahl der Befürworter auf ein Drittel gesunken. Von den anfangs Unentschiedenen haben sich die meisten den Skeptikern angeschlossen und ihnen zu einer klaren Mehrheit verholfen.
Zentrale Argumente waren Hinweise, dass durch Enteignung nicht eine einzige Wohnung hinzukommt, sich also am eigentlichen Problem, dem Mangel an Wohnungen in Ballungszentren, der sich durch starken Zuzug verschärft, nichts ändert. Und dass nur ein kleiner Teil der Wohnungen den zum Feindbild erhobenen Großunternehmen gehört. Der Normalfall sind private Kleinvermieter, die gar nicht auf maximale Rendite aus sind.
Begriffsverwirrung: Kapitalismus? Marktwirtschaft? Sozialismus?
Ähnliches gilt für die Privatwirtschaft generell. In Deutschland herrscht kein „Manchester-Kapitalismus“. Kleine und mittlere Unternehmen bilden das Rückgrat, nicht Großkonzerne. Betriebliche Mitbestimmung, Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmern und Gewerkschaften prägen das deutsche Modell. Auch hier könnte eine offene Debatte die ideologischen Thesen der Marktschreier widerlegen. Sie muss freilich geführt werden. Von allein setzt der Abgleich mit der Realität nicht ein.
Warum setzt Juso-Chef Kühnert dennoch eins drauf? Und auf wie viel Zustimmung kann er hoffen? Das hängt davon ab, welche Gruppen in der Gesellschaft man betrachtet. Gründe für Kritik an den Alltagsfolgen von Kapitalismus und Globalisierung gibt es genug. Also auch Gründe, warum sehr viele Deutsche empfänglich für diese Kritik sind, selbst wenn die Unterschiede zwischen Arm und Reich hier weit geringer sind als in den angelsächsischen Musterländern der Marktwirtschaft, den USA und Großbritannien. Und auch weit geringer als in Staaten wie China, Russland oder Venezuela, die soziale Gerechtigkeit propagieren, aber wenig dafür tun.
Die SPD verirrt sich bei der Suche nach ihrer Erfolgsformel
Die Sympathien für Enteignung sind freilich sehr ungleich über die Parteien und die Menschen in Deutschland verteilt. Bei FDP, CDU und AfD traf die Enteignung großer Wohnungsunternehmen auf nur 11 bis 17 Prozent Zustimmung. Bei SPD, Grünen und Linken gab es Zustimmungsraten von 58 bis 70 Prozent. Kühnert kann auf breite Unterstützung im SPD-Funktionärsapparat hoffen. Aber auch bei potenziellen SPD-Wählern? Warum soll der Facharbeiter bei Bosch oder der Betriebsrat bei VW die Kollektivierung der Autoindustrie für eine nützliche Idee halten? Und wie viele gutsituierte Grünen-Wähler sind noch dafür, wenn aus der ideologischen Predigt zum 1. Mai ein Regierungsprogramm wird? Das würde ihre private Altersversorgung gefährden, die im Zweifel zu einem Gutteil auf Aktien und Immobilien beruht.
Die Tragik der heutigen SPD besteht darin, dass sie ihre Erfolgsformel am liebsten vergessen möchte. Groß war sie, als sie sich unter Brand, Schmidt und Schröder zur Mitte öffnete. Zur Regierungsführung reichte es erstmals, nachdem sie sich im Godesberger Programm von der Verstaatlichung verabschiedet und zu „freiem Wettbewerb und freier Unternehmerinitiative“ als Grundlage sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik bekannt hatte. Nun jedoch rufen die Funktionäre nach jeder Schlappe, die Partei müsse linker werden – und wundern sich dann, dass die Zahlen weiter bröckeln.
Breiter deutscher Konsens: Der Staat soll's richten
Nach aller Erfahrung wird die Forderung nach Enteignung und Kollektivierung bald die Stoßrichtung ändern – hin zu mehr staatlicher Kontrolle der Wirtschaft und höheren Steuern. Trotz allen Erfolgs haben die Deutschen ein Grundmisstrauen gegen die Privatwirtschaft und einen überdurchschnittlichen Glauben an den guten Staat. Auch die deutsche Linke weiß im Grunde sehr genau, woher der breite Wohlstand dieses Landes kommt. Im Stillen will sie doch gar nicht Gewinne verringern. Sie will einen höheren Teil davon abschöpfen, um Wohltaten zu verteilen. Und den Applaus dafür einzuheimsen.