Erdogan und der Ukraine-Krieg: Das Ende einer türkischen Illusion
Der türkische Präsident Erdogan wollte im Konzert der Großen mitspielen. Das hat Putin für seine Zwecke genutzt. Eine Analyse.
Der russische Angriff auf die Ukraine hat nicht nur in Europa viele Illusionen über die Moskauer Außenpolitik zerstört. Auch die Türkei wird auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Die türkische Selbsteinschätzung als Aufsteiger in der Liga der Großmächte wird als Hybris entlarvt.
Präsident Erdogan nutzte seine enge Zusammenarbeit mit Kremlchef Putin bisher, um türkische Ziele in Syrien zu verfolgen und dem Westen zu signalisieren, dass die Türkei unabhängig von Amerikanern und Europäern und auf eigene Rechnung handeln könne.
Die Türkei kaufte trotz heftiger Kritik ihrer Nato-Partner ein russisches Flugabwehrsystem und äußerte sich verächtlich über den Westen. Noch vor kurzem warf Erdogan den USA und Europa vor, in der Ukraine-Krise alles schlimmer zu machen. Nach dem Ende der Amtszeit von Angela Merkel gebe es eine Führungskrise in Europa, sagte er. Auch US-Präsident Biden mache keine gute Figur. Erdogan wollte es als Vermittler besser machen. Doch damit ist er gescheitert.
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Erdogan prahlt von seinem Verhältnis zu Putin
Regierungsnahe Kommentatoren in der Türkei preisen Erdogan als prägende Figur einer neuen Weltordnung, in der Amerika und Europa an Einfluss verlieren. Der türkische Präsident prahlte, so mancher internationale Politiker sei neidisch auf sein gutes Verhältnis zu Putin, und plante einen Dreier-Gipfel mit dem Kremlchef und dem ukrainischen Staatschef Selenskyj in der Türkei. Doch Putin ließ ihn abblitzen. Wenn überhaupt, dann will er mit den USA ins Geschäft kommen, nicht mit Ankara.
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Putin hat Erdogans Ambitionen, im Konzert der Großen mitzuspielen, für seine Zwecke genutzt. Der türkische Präsident machte sein Land von Moskau abhängig, weil er es dem Westen zeigen wollte. Wie groß diese Abhängigkeit ist, zeigt sich jetzt deutlich. Die Hälfte der türkischen Erdgas-Importe, 40 Prozent der Öleinfuhren und 75 Prozent der Weizen-Importe kommen aus Russland.
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Wenn die Türkei den Kreml verärgert, läuft sie Gefahr, dass Putin Millionen weitere Flüchtlinge aus Syrien in die Türkei treibt – keine anderthalb Jahre vor der nächsten Wahl in der Türkei, wo sich viele Wähler schon jetzt über die vielen syrischen Flüchtlinge ärgern.
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Deshalb scheut Erdogan davor zurück, die Zufahrt zum Schwarzen Meer durch den Bosporus und die Dardanellen für russische Schiffe zu sperren, so wie es die Ukraine fordert und wie es Ankara nach dem Montreux-Abkommen von 1936 auch tun könnte. An westlichen Sanktionen gegen Moskau dürfte sich Ankara ebenfalls nicht beteiligen: Selbst nach Kriegsausbruch am Donnerstag nannte Erdogan Russland ausdrücklich einen „Freund“.