Geplantes Mauerprojekt: Das Allerletzte, das Berlin noch gefehlt hat
Berlin braucht kein Spektakel, das Mauer und Stacheldraht als touristisches Event aufführt. Der Senat muss für eine überzeugende Vergegenwärtigung der Geschichte sorgen. Ein Kommentar.
Niemand hat die Absicht, die Mauer wiederzuerrichten? Leider doch. Seit dem Wochenende geistern Gerüchte über ein geplantes „Event“ mitten in Berlin durch die Stadt. Gestern nun haben die darin involvierten Berliner Festspiele eine Mitteilung zu diesem klandestinen Mauerprojekt herausgegeben. Unter den Linden soll eine temporäre Mauer errichtet werden, und mehr noch: Sie soll ein – so wurde in den Medien gemutmaßt – „der Stalinzeit nachempfundenes Ambiente“ umgrenzen. Die Festspiele halten sich wortreich bedeckt, doch diesen einen Satz ihrer Mitteilung muss man zwei Mal lesen: „Die Berliner Präsentation dieses Großprojekts soll für einen kurzen Zeitraum eine Stadt in der Stadt schaffen, die ein Leben nach anderen Regeln zeigt und erfahrbar macht.“
Das Leben „nach anderen Regeln“, das hier gemeint ist, ist das des Terrors, wie ihn der sowjetische Diktator Stalin jahrzehntelang über die Sowjetunion verhängt und ausgeübt hat. Die Mauer, die seine Schüler in der ostdeutschen SED Jahre acht Jahre nach seinem Tod aufgerichtet haben, ist davon ein getreues Abbild. Ulbrichts Gefängniszaun, hinter dem es zwar zum Glück nicht mehr so mörderisch zuging wie in den Hoch-Zeiten von Stalins Terror, beraubte dennoch 17 Millionen Bürger ihrer Freiheit.
Dass das Vorhaben der Mauer-Wiedererrichtung jetzt als künstlerisches Projekt verkauft wird, ist glatter Hohn. Es mag ja anderenorts zahlreiche Freunde des re-enactments, des Nachspielens historischer Ereignisse geben, von der Schlacht bei Waterloo bis – ja doch! – zum Nazi-KZ. Aber derlei möge Freiwilligen vorbehalten bleiben. Berlin war 28 Jahre lang durch Mauer und Schießbefehl zerteilt, mindestens die 140 namentlich bekannten Opfer haben ihren Freiheitsdrang mit dem Leben bezahlen müssen.
Grütters spricht von "Weltereignis"
Tausende Familien wurden getrennt, und wer wissen will, wie tief die Mauerspaltung ins Leben der Menschen einschnitt, braucht sich nur der Schlangen vor den Passierscheinstellen zu erinnern oder wenigstens die Fotos davon betrachten. Und was das Nachspielen von Gulag und Geheimpolizei, von willkürlichen Verhaftungen und Verurteilungen angeht – wie es unlängst in Russland über zwei Jahre hinweg für ein gigantisches Filmprojekt ausprobiert wurde –, so können wir nur mit Entsetzen auf die Zeugnisse eines Alexander Solschenizyn oder Warlam Schalamow zurückgreifen, ohne dass uns Unter den Linden eine tourismuskompatible Soft-Variante vorgespielt werden müsste.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) wird vom Boulevard mit dem begeisterten Wort „Weltereignis“ zitiert, das sie von dem Projekt „erwarte“. Dass ihren Berliner Parteifreunden, als sie derlei zum Frühstück lesen konnten, da noch nicht die Kaffeetasse aus der Hand gefallen ist, sagt genug über den geistigen Zustand ihrer Partei (die anderen sind nicht besser). Darf man beispielsweise daran erinnern, dass seit Monaten über eine würdige Gestaltung von Checkpoint Charlie gerungen wird, einem höchst authentischen Ort der Mauer-Vergangenheit, und dass die Stadt und ihr Senat weniger darum kämpfen als betteln, dass beim vorgesehenen Investorenbau wenigstens so ungefähr der historischen Wahrheit Rechnung getragen wird?
Berlin braucht ganz andere Kunstprojekte. Wie wäre es mit 'Eine intakte Schule'? Bei dem Seltenheitswert ein Stück wirkliche Kunst!
schreibt NutzerIn remigius20
Millionen Besucher kommen nach Berlin, nicht bloß, weil die Stadt so hip ist, sondern weil sie als Ganzes die Geschichte der gewaltsamen deutschen Teilung bezeugt. Und es ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit dieses wie jedes anderen Senats, alles zu tun, um die konkrete Anschauung der Geschichte in ihren authentische Zeugnissen, den Resten von Mauer und Panzersperren wie auch den überlieferten Erzählungen der Opfer und Betroffenen, wachzuhalten und zu pflegen. Ein Spektakel, das Stacheldraht und Lagerleben als touristisches Event aufführt, flankiert von Sprechblasen der Festspiele, ist so ziemlich das Allerletzte, das Berlin noch gefehlt hat.
Früher, als der Berliner Wortschatz noch jüdisch gefärbt war, gab es dafür das schöne Wort meschugge.