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US-Präsident Joe Biden und der scheidende Verfassungsrichter Stephen Breyer im Weißen Haus.
© Saul Loeb/AFP

Schwarze Frau statt weißer Mann: Darum forciert Biden eine Premiere am Obersten US-Gericht

Die Neubesetzung am US Supreme Court wird zum Rendezvous des parteipolitischen Machtkampfs mit langfristigem gesellschaftlichen Wandel. Eine Analyse.

Der älteste Verfassungsrichter der USA hat seinen Rücktritt für den Sommer angekündigt: Stephen Breyer, ein 83-jähriger weißer Mann. Nach aller Wahrscheinlichkeit wird eine afroamerikanische Richterin, die drei Jahrzehnte jünger ist, ihn ersetzen. Es wäre eine Premiere für die USA. Präsident Joe Biden hat versichert, dass er eine schwarze Frau nominieren wird.

Damit die USA die überfällige Modernisierung erleben und die gesellschaftliche Realität auch am Supreme Court besser abbilden, müssen die Demokraten zügig und entschlossen handeln. Im Senat haben sie die denkbar knappste Mehrheit: ein 50 zu 50 Patt mit den Republikanern, das sie erst mit dem „Tie breaking“-Votum der Vizepräsidenten Kamala Harris bei Stimmengleichheit überwinden. Bei der Kongresswahl Anfang November werden sie ihre Mehrheit wohl verlieren.

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Dann wäre Biden bei der Neubesetzung des vakanten Richterstuhls auf eine Absprache mit den Republikanern angewiesen. Ihr Fraktionschef im Senat, Mitch McConnell, hat bereits angekündigt, dass er das Verfahren mit allen Mitteln der Geschäftsordnung verzögern wolle.

Die „New York Times“ kritisiert Breyer scharf. Ein Rücktritt im Sommer lasse Biden ein riskant kleines Zeitfenster für die erfolgreiche Nachbesetzung vor der Kongresswahl Anfang November. Donald Trump hatte die von ihm nominierte Richterin Amy Coney Barrett freilich in kürzerer Zeit wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl 2020 durchgesetzt. Vier Jahre zuvor hatten die Republikaner Barack Obama noch daran gehindert, im Wahljahr 2016 einen Nachfolger für den verstorbenen Antonin Scalia zu nominieren.

Der Kampf im Senat hilft bei der Mobilisierung für die Wahl

In den Monaten bis zur Wahl werden die USA einen parteipolitischen Kampf auf Biegen und Brechen sehen. Das kommt den Wahlstrategen durchaus zupass. Sie hoffen, dass das Ringen um die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts ihnen bei der Mobilisierung ihrer jeweiligen Wählerschaft hilft.

Ketanji Brown Jackson hat laut US-Medien die besten Chancen.
Ketanji Brown Jackson hat laut US-Medien die besten Chancen.
© Tom Williams/Pool via REUTERS

Wenn in den vergangenen Jahrzehnten eine Neubesetzung anstand, peitschten beide Lager ihre Anhänger mit der Behauptung auf, nun gehe es um Untergang oder Verteidigung der Werteordnung, vom Wahlrecht über die Abtreibung bis zur Förderung von Minderheiten an Schulen und Universitäten beziehungsweise deren Grenzen durch die Verfassung. In der Praxis haben die obersten Richter meist weniger parteipolitisch geurteilt, als die Parteien, die sie nominierten, erwartet haben.

[Lesen Sie auch: Ein ausführliches Gespräch mit dem scheidenden Richter über sein Amtsverständnis. Wächter der Verfassung.]

So kreuzen sich einmal mehr in der amerikanischen Geschichte die kurzfristigen machtstrategischen Interessen der Politik mit den langfristigen historischen Linien der Zusammensetzung des Supreme Court. In den 28 Jahren, seit Bill Clinton 1994 Breyer ernannte, einen liberalen Juristen jüdischen Glaubens, hat sich das Gremium fundamental verändert.

Mehr Frauen, mehr Katholiken, mehr Minderheiten

Es ist nach Geschlecht, Religion und ethnischer Herkunft pluraler geworden. Damals bildeten „Wasps“ – weiße, angelsächsische, protestantische Männer – die große Mehrheit. Heute sind drei der neun Mitglieder Frauen, bald werden es vier sein. Bisher waren nur fünf der bisherigen 115 Verfassungsrichter Frauen.

Neun Mitglieder hat der Supreme Court. Derzeit sind sechs Katholiken und zwei jüdischen Glaubens. Ein Richter, Neil Gorsuch, ist katholisch erzogen, besucht aber seit langem eine protestantische Kirche; er ist jetzt der einzige Vertreter dieser Konfession. Das ist eine historische Anomalie. In der 233-jährigen Geschichte des Gerichts waren unter den 115 obersten Richtern 91 Protestanten, 15 Katholiken und acht Juden.

Auch nach Hautfarbe und ethnischer Herkunft hat sich das Verfassungsgericht in den vergangenen Jahrzehnten geöffnet, unter republikanischen wie demokratischen Präsidenten. Den ersten schwarzen Richter Thurgood Marshall hatte der Demokrat Lyndon B. Johnson 1967 ernannt. Als er 1991 aus Gesundheitsgründen abtrat, berief der Republikaner George H. W. Bush erneut einen Afroamerikaner, Clarence Thomas. Die erste Latina, Sonia Sotomayor, kam 2009 dank des Demokraten Barack Obama an den Supreme Court.

Drei afroamerikanische Favoritinnen

Eine afroamerikanische Richterin würde das Gewicht der Frauen und der Minderheiten stärken. Favorisiert sind laut US-Medien Ketanji Brown Jackson, Leondra Kruger und Michelle Childs.

Leondra Kruger ist mit 45 Jahren relativ jung für den Supreme Court. Die Mutter wanderte aus Jamaica ein, die Großeltern waren europäische Juden.
Leondra Kruger ist mit 45 Jahren relativ jung für den Supreme Court. Die Mutter wanderte aus Jamaica ein, die Großeltern waren europäische Juden.
© via REUTERS

Die 52-jährige Jackson hat laut „Washington Post“ die besten Chancen. Sie ist in der Hauptstadt geboren, wuchs in Miami, Florida, auf, studierte in Harvard und arbeitete einige Jahre für den scheidenden Verfassungsrichter Breyer. Seit 2013 ist sie Bundesrichterin am Berufungsgericht Washington DC.

Bei der Berufung dorthin, die der Senat ebenfalls bestätigen musste, traf sie auf wenig Widerstand der Republikaner. Eine Rolle spielte womöglich, dass sie mit dem damaligen Fraktionsführer der Republikaner im Abgeordnetenhaus, Paul Ryan, verschwägert ist durch die Heirat Verwandter.

Leondra Kruger ist mit 45 Jahren relativ jung für den Supreme Court. Sie ist in Pasadena, Kalifornien, geboren, studierte in Yale und Harvard und ist beigeordnete Richterin am Obersten Gericht des Staats Kalifornien.

Ihre Mutter wanderte aus Jamaica ein, die Großeltern väterlicherseits sind europäische Juden. In der gesellschaftspolitischen Balance des Gerichts erfüllt sie drei Kriterien: Frau, schwarz und in Nachfolge Breyers zumindest zum Teil jüdischer Abstammung.

Childs wäre eine Herausforderung für Republikaner

Ein taktisch interessanter Zug wäre die Nominierung von Michelle Childs. Die 55-Jährige stammt aus Detroit, studierte in Florida und South Carolina und ist Bundesrichterin am Bezirksgericht South Carolina. Sie wird von James Clyburn unterstützt, einem demokratischen Abgeordneten aus South Carolina, der als „Whip“ der Demokraten im Abgeordnetenhaus die drittmächtigste Position in der Fraktion innehat und über beträchtlichen Einfluss in der Partei verfügt.

Michelle Childs bedeutet eine Herausforderung für die republikanischen Senatoren aus ihrem Heimatstaat South Carolina.
Michelle Childs bedeutet eine Herausforderung für die republikanischen Senatoren aus ihrem Heimatstaat South Carolina.
© via REUTERS

Zugleich wäre es eine Herausforderung für die beiden republikanischen Senatoren aus South Carolina, Lindsey Graham und Tim Scott, eine Kandidatin aus ihrem Bundesstaat abzulehnen. Ihre Qualifikation hatten sie bei anderer Gelegenheit gelobt.

Biden hat Vizepräsidentin Kamala Harris mit der Leitung des Auswahlverfahrens betraut. Spekulationen, dass sie selbst an den Supreme Court weggelobt werden soll, haben sich nicht bestätigt.

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