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Das Corona-Medikament Paxlovid.
© REUTERS/Jennifer Lorenzini/File Photo

Erst gehortet, dann vernichtet: Corona-Medikamente des Gesundheitsministeriums bleiben liegen

Auf antiviralen Wirkstoffen ruhen große Hoffnungen im Kampf gegen Covid-Infektionen. Doch nun zeigt sich: Die Nachfrage ist weitaus geringer.

Veritable Therapiedurchbrüche im Kampf gegen das Coronavirus – das sind die Hoffnungen, die auf den neuen antiviralen Medikamenten liegen, die pharmazeutische Hersteller inmitten der Pandemie unter Hochdruck entwickelt haben.

Und tatsächlich, darauf deuten Studienergebnisse und Zulassungsbescheide hin, scheinen die innovativen Virostatika und monoklonalen Antikörper gegen COVID-19 für zwei Patientengruppen Vorteile zu haben: Für infizierte ungeimpfte Patienten, die schwer zu erkranken drohen, aber auch für Geimpfte, die sich infiziert haben und nun – etwa aufgrund einer eingeschränkten Immunantwort oder anderer Risikofaktoren – eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen schweren Krankheitsverlauf haben.

Entsprechend groß war das Interesse der Bundesregierung, sich im Laufe des Jahres 2021 und dann noch einmal verstärkt zu Beginn des Jahres 2022, auf dem Höhepunkt der Omikron-Welle, mit den neuen Arzneimitteln zu bevorraten. „Das Medikament ist extrem vielversprechend, weil es in der frühen Gabe den schweren Verlauf von Covid deutlich abschwächen kann“, sagte etwa der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), als er Ende Dezember 2021 eine Million Packungen des Medikaments Paxlovid (Wirkstoffe Nirmatrelvir und Ritonavir) des US-Herstellers Pfizer orderte. Er „rechne damit, dass wir damit zahlreiche schwere Verläufe auf den Intensivstationen verhindern können“.

Doch nun, wenige Monate später, weisen Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums darauf hin, dass die Medikamente im stationären Alltag, vor allem aber in der ambulanten Versorgung offenbar nur äußerst verhalten eingesetzt werden. Von den zentral bestellten eine Million Packungen Paxlovid etwa, teilt das BMG auf Anfrage von Tagesspiegel Background mit, wurden bislang lediglich 8700 auf ärztliche Anforderung abgegeben.

Diskrepanzen zwischen Einkaufs- und Abgabemengen gibt es auch bei Lagrevio (Wirkstoff Molnupiravir) von Merck Sharp & Dome (80.000:13.400) und bei Xevudy (Wirkstoff Sotrovimab) von GlaxoSmithKline (55.000:22.000).

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Insgesamt 145.000 Therapieeinheiten orderte das BMG darüber hinaus von Ronapreve (Wirkstoffe Casirivimab und Imdevimab) von Roche sowie Evusheld (Wirkstoffe Tixagevimab und Ritonavir) von AstraZeneca. Auch hier war die Nachfrage gering: Von Ronapreve wurden bislang 28.500 Therapieeinheiten abgegeben, von Evusheld gerade einmal 2300.

Lediglich bei dem Arzneimittel Veklury (Wirkstoff Remdesivir) von Gilead Sciences, das die Bundesregierung zwischen Oktober 2020 und März 2021 über ein so genanntes Joint Procurement Agreement (JPA) der Europäischen Union zentral beschaffte, halten sich georderte und abgegebene Menge in etwa die Waage (156.000:154.000).

Schweigen zu Kosten

Ein anderer Wirkstoff, Bamlanivimab von Eli Lilly, den das BMG zu Beginn der Pandemie ebenfalls zentral beschafft hatte, hat sich derweil offenbar als Flop erwiesen: „Aufgrund sinkender Nachfrage wegen fehlender Wirksamkeit gegen die Delta-Variante“, schreibt das BMG, hätten „einige Tausend Durchstechflaschen Bamlanivimab das Verfallsdatum erreicht und werden der Vernichtung zugeführt“.

Haben sich Lauterbach und Spahn verkalkuliert?

Wie viel Geld die großzügige Medikamenten-Bevorratung den Steuerzahler bislang gekostet hat, verrät das BMG unterdessen nicht: „Über die Preise“, heißt es aus dem Ministerium, „wurde vertraglich mit den pharmazeutischen Unternehmer Geheimhaltung vereinbart“. Die Hersteller Roche, AstraZeneca, GSK und Pfizer möchten hierzu auf Nachfrage ebenfalls keine Geschäftsdetails nennen.

Haben Gesundheitsminister Lauterbach und sein Vorgänger Jens Spahn (CDU) sich also bei der Medikamenten-Bedarfsanalyse und den Bestellmengen grandios verkalkuliert? Ganz so einfach ist es nicht. Es gibt weitere Gründe, weswegen die Medikamente in den Lagern liegen bleiben. Für Ärztinnen und Ärzte etwa, das zeigt die Recherche bei Vertretern von Praxen und Kliniken, bei Apothekern, wissenschaftlichen Fachgesellschaften und pharmazeutischen Herstellern, stellen Auswahl, Verordnung und Verabreichung der Medikamente im therapeutischen Alltag eine mitunter kaum zu bewältigende Herausforderung dar.

Diese beginnt für niedergelassene Ärzte bereits bei der Frage, für wen welches Medikament überhaupt geeignet sein könnte. „Die größte Hürde ist das Casefinding, das heißt die potenziellen Benefiziare einer Therapie frühzeitig zu identifizieren“, sagt Martin Scherer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM).

Der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).
Der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).
© AFP/Tobias Schwarz

Zwar gebe es eine Corona-Leitlinie, die „ständig aktualisiert“ werde und an der sich Praxisärzte orientieren sollten. Geeignet seien die Therapien demnach insbesondere für Risikopatienten. Im Einzelfall aber verlässlich zu prognostizieren, ob ein Patient tatsächlich einen schweren Verlauf haben werde, sei schwierig.

Das bestätigt auch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) in ihrer Stellungnahme zu „Antiviralen Arzneimitteln zur Therapie von COVID-19“: „Es fehlen umfassende Analysen für eine Gewichtung der Risikofaktoren und damit die Voraussetzungen für eine evidenzbasierte Selektion von Risikopatient*innen.“ Das wiederum sorgt offenbar für Verunsicherung bei den Ärzten.

Kein Gamechanger

Die „zweite Hürde“, so Scherer, sei die „pharmakologische Risiko-Nutzen-Abwägung“. Weil die Medikamente starke Nebenwirkungen haben könnten – Lagevrio etwa könne aufgrund fruchtschädigender Nebenwirkungen in Schwangerschaft und Stillzeit „hoch gefährlich“ sein, bei Paxlovid wiederum müssten Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln berücksichtigt werden –, gelte es, sich immer wieder vor Augen zu führen, tunlichst nichts zu „verschlimmbessern“ mit der Corona-Therapie. „Das ist bei einer Erkrankung mit überwiegend niedriger Krankheitslast gar nicht so einfach“, sagt Scherer.

Dazu komme die Ernüchterung vieler Ärzte über die von ihnen im Versorgungsalltag beobachtete Wirksamkeit der Mittel: „Einen echten Gamechanger für die Pandemiebekämpfung haben wir bisher nicht gesehen.“

Die Zurückhaltung bei den Verordnungen liegt aber offenbar auch darin begründet, dass sich (mit Ausnahme von Lagrevio und Paxlovid, die als Tabletten gegeben werden) sowohl die Beschaffung als auch die Verabreichung der meisten Medikamente in der Praxis als unkommod erweist.

Weil manche antivirale Medikamente überhaupt nur wirken, wenn sie zu einem frühen Zeitpunkt der Erkrankung gegeben werden, kommt es bei ihrem Therapiebeginn im Wortsinn auf jeden Tag an. Die Medikamente aber können oftmals nur unter großem persönlichen Einsatz so schnell beschafft werden – abgegeben werden sie in der Regel nur über spezielle, vom BMG beauftragte „Stern- und Satellitenapotheken“, die auf der Internetseite des Robert Koch-Instituts gelistet sind.

Gemeinhin handelt es sich dabei um krankenhauseigene Apotheken großer Universitätsklinika: „Insbesondere die Abholung monoklonaler Antikörper von ausgewiesenen Stern- und Satellitenapotheken stellt für die Behandlung außerhalb von urbanen Ballungszentren eine große Herausforderung dar“, beklagt die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV).

Damit aber nicht genug. „Die monoklonalen Antikörper müssen 30 Minuten bis eine Stunde appliziert werden“, teilt die KBV mit, „daran schließt sich eine einstündige Nachbeobachtungszeit an“. Welcher Arzt aber möchte infizierte Patienten über zwei Stunden in seiner Praxis sitzen haben? Im ambulanten Bereich, so jedenfalls schätzt es die KBV ein, seien „für die Patientinnen und Patienten, die mit COVID-19 infiziert sind, nur wenige spezielle Praxen geeignet“.

Die kassenärztliche Statistik bestätigt diesen Eindruck: „Für die Verwendung monoklonaler Antikörper zur Behandlung einer nachgewiesenen COVID-19-Erkrankung liegen der KBV für den Zeitraum ab des erstmalig durch eine entsprechend Rechtsverordnung (Monoklonale-Antikörper-Verordnung) des Bundesministeriums für Gesundheit vom 21. April 2021 geregelten Versorgungsweges bis einschließlich dem dritten Quartal 2021 erste Abrechnungsdaten der vertragsärztlichen Leistungserbringung vor“, teilt die KBV mit.

Das Ergebnis: „In diesem Zeitraum wurden weniger als 20 Anwendungen dokumentiert.“ Weniger als 20 Anwendungen in fünf Monaten – bundesweit, wohl gemerkt, und dies bei täglichen Neuinfektionen, die allein im September 2021 bei täglich mehr als 10.000 lagen.

Klinikärzte im Vorteil

Aber lässt sich daraus schlussfolgern, dass möglicherweise weniger antivirale Medikamente eingesetzt werden als eingesetzt werden sollten? „Klar ist“, sagt Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), „dass viele Ärzte damit überfordert sind zu beurteilen, wann wem welches Medikament gegeben werden sollte“.

Das liege nicht an mangelnder Bereitschaft, sich zu informieren und fortzubilden. „Aber die Studienlage ändert sich permanent, es kommen neue Erkenntnisse über die Wirksamkeit oder eben Nicht-Wirksamkeit bei immer neuen Virusvarianten hinzu, und da kann es schwierig sein, der Überblick zu behalten, wenn man sich nicht ausschließlich mit Covid beschäftigt“, sagt Kluge.

Seit Kurzem etwa verdichteten sich Hinweise aus den USA, wonach das Mittel Xevudy (Sotrovimab) bei der aktuellen BA.2-Omikron-Variante womöglich einen Wirkverlust habe. „Am UKE haben wir uns deswegen dazu entschieden, Patienten, die in einer frühen Phase mit Symptomen zu uns kommen und entweder ungeimpft sind oder ein hohes Risiko für einen schweren Verlauf haben, die doppelte Dosis Sotrovimab zu geben, manchmal sogar in Kombination mit einem weiteren Medikament.“

Doch um solche Entscheidungen verantwortungsvoll treffen zu können, brauche es Erfahrung – und fachlichen Austausch. Er und viele seiner Kollegen an den Unikliniken, sagt Kluge, seien hier „gegenüber niedergelassenen Ärzten klar im Vorteil, wir haben nicht nur die Apotheke im Haus, sondern auch die neuesten Studien sofort, können uns beraten und im Team entscheiden“.

[Lesen Sie dazu auch bei Tagesspiegel Plus: Bringen diese Tabletten die Wende im Kampf gegen Corona? (T+)]

Ähnlich äußern sich die Berliner Charité und das Klinikum der Universität München (LMU): „Im klinischen Bereich sind die Hürden relativ niedrig“, heißt es aus Berlin. „Alle Substanzen sind schnell verfügbar und bestellbar“, teilt München mit. Die Verordnung aber, so eine LMU-Sprecherin, „sollte unbedingt in den Händen erfahrener Ärztinnen und Ärzte bleiben, da für die neuen antiviralen Medikamente relativ wenig Anwendungserfahrung besteht“.

Aktuelles Beispiel: Am LMU-Klinikum würden seit Kurzem nur noch die Wirkstoffe Sotrovimab, Molnupiravir, Nirmatrelvir/Ritonavir sowie Remdesivir verabreicht. Der Grund: Andere Antikörper, die früher ebenfalls per Infusion gegeben worden seien, „zeigen mit der Omikron-Variante keine Effekte mehr“.

Verunsicherung über Wirksamkeit

Verwunderlich ist das nicht. Tatsächlich, das schreibt auch die AWMF in ihrer Stellungnahme, seien sämtliche Zulassungsstudien „vor der Dominanz der Omikron-Varianten BA.1 und BA.2 durchgeführt worden“; in einigen Studien sei zudem der Status „geimpft“ oder „genesen“ ein Ausschlusskriterium gewesen.

Und es gebe einen weiteren Faktor, der zu „Unsicherheiten“ führe, bei welchen Patienten die Medikamente wie wirkten: Die zur Verfügung stehenden Antikörper oder Virostatika seien zwar in randomisierten kontrollierten Studien gegenüber Placebo, nicht aber im direkten Vergleich untereinander getestet worden.

Wohl auch vor diesem Hintergrund mahnt die Berliner Charité zu mehr Aufklärung – sowohl von Ärzten als auch Patienten: „Wir würden uns wünschen, dass in den Testzentren umfangreichere Informationen zu antiviralen Substanzen für Risikopatientinnen und –patienten vorhanden wären und auch ambulant und klinisch tätige Ärzte erneut informiert und sensibilisiert würden, um einen frühen Therapiebeginn sicherzustellen.“

Heike Haarhoff

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