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Salut aus Kanonen. Mit ihren Atomraketen ist China schon viel weiter als bei diesem Zeremoniell zum 100. Jubiläum der Kommunistischen Partei auf dem Pekinger Tiananmen-Platz.
© dpa/Meng Tao/Xinhua

Beispiellose nukleare Aufrüstung: Chinas geheimes Hütchenspiel mit 119 Atom-Silos

Weitgehend unbemerkt baut Peking sein Nuklearwaffenarsenal aus. Besonders perfide: Unklar ist, wo sich echte Raketen befinden und wo Attrappen. Ein Gastbeitrag.

Rafael Loss koordiniert paneuropäische Datenprojekte im Berliner Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR).

Diesmal lagen die US-Geheimdienst wohl richtig, dass China sein Nuklearwaffenarsenal in den kommenden Jahren signifikant erweitern könnte. Vergangene Woche enthüllten Forscher des James Martin Center for Nonproliferation Studies im kalifornischen Monterey den Bau von 119 Silos für Interkontinentalraketen im Nordwesten Chinas. Diese hatten sie mit Hilfe von kommerziellen Satellitenbildern ausfindig gemacht.

Auch wenn die Raketen, für die die Silos bestimmt sind, keine direkte Bedrohung für die europäische Sicherheit darstellen, deuten sie doch darauf hin, dass China sein Nuklearwaffenarsenal ausbaut und diversifiziert. Dies könnte den Rüstungswettbewerb mit den USA anheizen und Bemühungen, China in die internationale Rüstungskontrolle einzubeziehen, weiter erschweren.

Immer wieder hatten US-Geheimdienste seit den 1980er Jahren gewarnt, dass das chinesische Nuklearwaffenarsenal in wenigen Jahren massiv wachsen würde. Diese Vorhersagen stellten sich aber regelmäßig als falsch heraus.

Beispiellose Expansion

Stattdessen hielt China lange an seinem im Vergleich zu den USA und Russland weitaus kleineren Arsenal mit gegenwärtig etwa 350 Nuklearsprengköpfen fest. Zuletzt hatte Admiral Charles Richard, Befehlshaber der US-Nuklearstreitkräfte, im April 2021 vor dem Kongress von einer „beispiellosen Expansion“ des chinesischen Arsenals gesprochen. Der Fund der kalifornischen Wissenschaftler scheint ihn nun zumindest teilweise zu bestätigen.

China modernisiert seit einiger Zeit bereits die Startplattformen für seine Nuklearwaffen. So erweiterten in den vergangenen Jahren immer wieder neue Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen Chinas landgestütztes Nuklearpotenzial. Auch nahm die Marine der chinesischen Volksarmee neue Atom-U-Boote in Betrieb; die Luftwaffe bekommt neue Bomber. Und nun also die Silos.

Für die strategische Raketentruppe der Volksarmee bedeuten sie einige Veränderung. Lange setzte China auf die Vorteile mobiler, landgestützter Systeme – Silos gab es nur wenige. Mehrachsige LKW dienen den Raketen als Transport- und Abschlussplattform. Durch ihre Beweglichkeit sind sie im Einsatzfall für den Gegner nur schwer ausfindig zu machen, wenn gefunden, aber sehr verletzlich. Andersherum verhält es sich mit gehärteten Silos: sie sind, wie die kalifornischen Forscher bewiesen, leicht zu finden, aber schwer zu zerstören.

Ersetzen werden die neuen Silos die mobilen Systeme aber nicht. Vielmehr wird China wohl beide Ansätze parallel verfolgen, um seine Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung insgesamt zu stärken. Auch wird China wohl nicht jedes der 119 Silos mit einer nuklearbestückten Interkontinentalrakete ausstatten. Stattdessen wird eine Art nukleares Hütchenspiel betrieben, bei dem vielleicht nicht einmal die chinesischen Silo-Mannschaften wissen, in welchen ihrer Schächte sich echte Raketen befinden und in welchen nur Attrappen.

Steigende Abschreckungswirkung

Ein potenzieller Gegner müsste trotzdem alle Silos im Blick behalten. So binden sie Aufmerksamkeit, die nicht mehr auf die mobilen Systeme gerichtet werden kann. Dadurch steigen ihre Überlebensfähigkeit und somit ihre Abschreckungswirkung.

Für die USA verkomplizieren die neuen Silos die eigenen Planungen. Sie müssen nun noch mehr Ressourcen aufwenden, um alle chinesischen Nuklearwaffen zu verfolgen. Dies könnte aber wiederum China dazu motivieren, sein Arsenal noch weiter auszubauen.

Zuletzt dienten vor allem die konventionellen Fähigkeiten und die bislang wenig effektive Raketenabwehr der USA der chinesischen Führung als Begründung für den Ausbau und die Diversifizierung des eigenen Arsenals. Die allgemein angespannten Beziehungen zwischen Washington und Peking sowie Chinas zunehmend nationalistischer und expansionistischer Kurs dürften aber ebenso dazu beitragen.

Für Deutschland und Europa stellt diese Entwicklung keine unmittelbare Bedrohung dar. Zwar können Chinas Interkontinentalraketen Europa durchaus erreichen, ausgerichtet sind sie auf Berlin, Paris oder Warschau aber wohl nicht.

Die weitaus größere Gefahr geht von einem regionalen Konflikt aus. Wenn Chinas Führung glaubt, dass ihre nukleare Abschreckung die USA Schachmatt setzt, fällt Aggression gegenüber Taiwan oder anderen Verbündeten Washingtons in der Region leichter. Ein solcher Konflikt böte enormes Eskalationspotenzial, insbesondere weil viele der chinesischen Mittelstreckenraketen, die dann zum Einsatz kämen, sowohl mit konventionellen als auch nuklearen Sprengköpfen bestückt werden können.

Es wäre gänzlich unklar, ob und wann China die nukleare Schwelle überschreiten würde. Gleichsam könnten US-Schläge auf chinesische Raketentruppen, die eigentlich gegen konventionelle Ziele gerichtet sind, versehentlich nukleare Systeme treffen. Chinas Führung könnte zu dem Schluss gelangen, dass die USA Chinas nukleare Abschreckung neutralisieren wollen und, bevor es so weit kommt, seinerseits nach einem nuklearen Erstschlag greifen.

Internationale Rüstungskontrolle tut not

Auch die Bemühungen, China in die internationale Rüstungskontrolle einzubeziehen, könnten die neuen Silos erschweren. Mehr noch als die USA und Russland, weigert sich China Transparenz zu gewähren bezüglich seiner nuklearen Systeme und Strategie.

Sollten die Silos unter ein Verifikationsregime fallen, müsste ein Großteil inspiziert werden, um verlässlich die Zahl der vertraglich festgelegten nuklearen Sprengköpfe zu bestimmen. Von einem solch weitreichenden Eingriff wäre Beijing nur schwerlich zu überzeugen.

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In den USA wird die Enthüllung der Silos den Gegnern der Modernisierung der eigenen Nuklearstreitkräfte Wind aus den Segeln nehmen. Die von Barack Obama angestoßene Modernisierung des US-Arsenals nimmt langsam Fahrt auf. Sie wird in den kommenden drei Jahrzehnten mit knapp tausend Milliarden Euro zu Buche schlagen.

Bislang konnte sich das Pentagon weitestgehend nur auf Geheimberichte und eigene Analysen berufen, mit dem Fund der Silos gibt es nun aber auch unabhängige Hinweise auf Chinas nukleare Ambitionen.

Ein weitgehendes Eindampfen der Modernisierungspläne durch Präsident Biden und die Demokraten wird damit unwahrscheinlicher. Dies wiederum würde sich auf die strategischen Diskussionen innerhalb der Nato auswirken, die dann auch Deutschland beträfen.

Rafael Loss

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