Global Challenges: Chinas Aufstieg ist nicht unaufhaltsam
Ungleichheit, Demografie, Xis Allmacht: Die Volksrepublik steht vor deutlich größeren Herausforderungen als die westlichen Demokratien. Ein Gastbeitrag.
Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Sigmar Gabriel. Gabriel ist Publizist und Aufsichtsrat bei der Deutschen Bank und Siemens Energy. Er war von 2009 bis 2017 Vorsitzender der SPD und von 2013 bis 2018 Vizekanzler. Weitere AutorInnen sind Günther Oettinger, Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Prof. Dr. Veronika Grimm, Jürgen Trittin, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.
Europa und die USA diskutieren Chinas heutige und künftige Rolle im Kern defensiv. Es mangelt zwar nicht an Erklärungen zur Selbstbehauptung der liberalen Demokratie. Aber die Sorge vor Chinas Machtzuwachs ist allgegenwärtig. Uns ängstigen nicht nur die schiere Größe und Wirtschaftskraft der Volksrepublik, noch verstörender wirkt der beispiellose wirtschaftliche Aufstieg des Landes, den Peking mit seinem Modell der gelenkten Marktwirtschaft erfolgreich betreibt.
Chinas Staatskapitalismus fordert unser Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell fundamental heraus. Was waren das noch für Zeiten, in denen sich der demokratische Westen seiner Stärke und seines Selbstbewusstseins nicht nur aus ökonomischen Gründen gewiss war, sondern vor allem, weil er seine normative Idee von Demokratie und Freiheit als Voraussetzung für dauerhafte Innovationsfähigkeit und wirtschaftlichen Erfolg angesehen hat. China rasanter Aufstieg gelang, ohne diese inneren Voraussetzungen nach westlichem Muster zu schaffen.
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Die Systemkonkurrenz ist unübersehbar. Erstmals spielt ein ernsthafter Wettbewerber auf der Weltbühne mit, denn die alte Sowjetunion war ja nur in militärischer Hinsicht Konkurrent. Kaum mehr als ein „Obervolta mit Atomraketen“, wie Altkanzler Helmut Schmidt formulierte.
Nach Einschätzung vieler Ökonomen wird China die USA 2030 als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen. Stehen wir also vor der Renaissance einer bipolaren Welt? Wie friedlich wird die Koexistenz von Washington und Peking sein? Und bleiben Krisen beherrschbar?
Chinas demografisches Problem übertrifft alles
Derzeit bekommt man auf diese Fragen meist „lineare“ Antworten: China, so heißt es, kenne nur einen Entwicklungspfad: den des ungebrochenen Ausbaus seines wirtschaftlichen Erfolgs und geopolitischen Einflusses. Doch ist das wirklich zwangsläufig? Unsere jüngere Vergangenheit zeigt ja, dass Geschichte keineswegs linear verlaufen muss. Wer hätte 1979 vorausgesagt, dass die Mauer zehn Jahre später fällt? Und wer hätte 1981 vorhergesehen, dass die Sowjetunion sich 1991 auflöst?
Man sollte sich hüten, Chinas weiteren Aufstieg für unaufhaltsam zu halten. Gerade wegen des stürmischen ökonomischen Fortschritts ist beispielsweise die soziale Ungleichheit in China größer als in Europa. Peking kann die sozialen, ethnischen und religiösen Spannungen im Land zwar mit seinem autoritären Herrschaftssystem (noch) unter Kontrolle halten. Allein die demografische Herausforderung als Folge der lange betriebenen Ein-Kind-Politik aber übertrifft alles, was wir in den Demokratien vor uns haben. Daran wird auch Pekings neue Drei-Kinder-Politik nichts ändern.
Mögliche Rückschläge auf Chinas Entwicklungspfad werden unterschätzt
Auch die westlichen Industrieländer stehen vor großen Herausforderungen, nicht zuletzt durch den Rechtspopulismus. Die Prognosen, wie China sich in dieser Dekade entwickelt, dürften jedoch viel unsicherer sein als die Vorhersagen über westliche Demokratien. Mögliche Rückschläge und Brüche auf Chinas Entwicklungspfad werden unterschätzt. Ob Chinas beispiellose wirtschaftliche Dynamik bis zum Ende des Jahrzehnts anhält, ist ungewiss. Sollte die politische Führung ihr Versprechen von mehr Wohlstand für immer breitere Bevölkerungskreise nicht halten können, entstünde eine ganz neue, krisenträchtige Situation. Der US-Politologe Ian Bremmer hat verschiedene Szenarien zur Zukunft Chinas entworfen.
Szenario 1: An der führenden Rolle der Kommunistischen Partei wird sich in den 2020er-Jahren nichts ändern. Der 67-jährige Staats-und Parteichef Xi Jinping, auf Lebenszeit gewählt, ist ohne Zweifel der mächtigste chinesische Führer seit Mao Zedong. Seine Anti-Korruptionskampagne stellte die Fähigkeit zur effektiven Verwaltung des Riesenreiches überhaupt erst wieder her. Die gewaltigen Investitionen in Hochtechnologie und nationale Champions verwandelten China von einem Technologieimporteur in einen Exporteur. Xi nutzt das Momentum, um China mit der neuen Seidenstraße als globalen politischen Wettbewerber in Stellung zu bringen.
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Allerdings: Die frühere Konsensbildung innerhalb der kommunistischen Parteiführung wurde ersetzt durch eine Ein-Mann-Führung von Partei und Staat. Seine ihm ergebenen Berater setzen zugunsten der ineffizienten Staatsbetriebe den privaten Sektor unter Druck, aus dem ein großer Teil der Produktivitätssteigerungen kommt. Bekanntestes Beispiel ist das abrupte Ende der Karriere von Jack Ma, dem wohl erfolgreichsten Geschäftsmann Chinas in der postindustriellen Wertschöpfung. Gerade um diese digitale Wertschöpfung aber wird es im laufenden Jahrzehnt gehen.
Xis Allmacht könnte von Innen unter Druck geraten
Gleichzeitig dehnen die USA und ihre Verbündeten beispielweise ihre Definition von „dual use“ auf alle Produkte aus, die auch nur im Entferntesten für den Militärapparat von Nutzen sein könnten. Dann ergeht es einer Reihe von chinesischen Unternehmen so wie dem Konzern Huawei, den mehrere westliche Länder beim Aufbau ihrer 5G-Netze aussperren.
Sinkt Chinas wirtschaftliche Dynamik, steigt die Verschuldung. Peking kann notleidende Banken und Unternehmen nicht mehr stützen, es drohen Insolvenzwellen und Massenarbeitslosigkeit. Überdies gibt es weniger Geld für Investitionen in die Seidenstraße. Xi kann seine Herrschaft nur noch mit brutaler Gewalt retten. Bremmer erwartet allerdings eher nicht, dass dieses Szenario Wirklichkeit wird
Er hält Szenario 2 für wahrscheinlicher: Der chinesischen Führung gelingt es zwar, die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen einigermaßen in den Griff zu bekommen. Xis uneingeschränkte Macht aber erodiert innerhalb des Apparats. Je mehr die wirtschaftliche Dynamik nachlässt, desto mehr wächst auch in China die Kritik an Xi. Er muss seine außenpolitischen Ambitionen zurückschrauben, schon um Europa davon abzuhalten, mit den USA eine Abwehrfront gegen Peking aufzubauen. Das Land nimmt einen bedeutenden, jedoch keinen dominanten Platz ein. Das erhöht die Chancen für verbesserte internationale Zusammenarbeit.
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Szenario 3 geht davon aus, dass China nicht in einen Überschuldungskreislauf gerät. Das Wirtschaftswachstum reicht aus. Der riesige Binnenmarkt ermöglicht es, die Kaufkraft des Volkes weiter zu erhöhen. Die Seidenstraße wird zu einem der zentralen internationalen Großprojekte des 21. Jahrhunderts. An den Treffen nehmen mehr Staatsoberhäupter teil als an der Generalversammlung der Vereinten Nationen.
Die Seidenstraßen-Mitglieder orientieren sich in technologischen und militärischen Fragen zunehmend an chinesischen Standards. Der Westen macht gute Geschäfte mit China. Die Beziehungen zwischen Peking und Washington aber bleiben gespannt, nicht zuletzt wegen des Taiwan-Konflikts. Das Ergebnis wäre keine bipolare Welt, sondern eine hybride Weltwirtschaft, die teils einen „freien Markt“ kennt, teils „staatskapitalistisch“ organisiert ist.
Je nachdem welches Szenario man für wahrscheinlich hält, ändern sich die geoökonomischen und geopolitischen Implikationen gewaltig. Ian Bremmer erwartet, dass „Chinas Führung heute den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen nicht gewachsen ist.“ Gleichzeitig mahnt er den Westen, den Chinesen Respekt dafür zu zollen, dass sie ein Entwicklungsland in eine technologische Supermacht verwandelt haben. Dem ist nichts hinzuzufügen. (Der Autor ist Senior Advisor der Eurasia Group von Ian Bremmer)
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