Falsche Vorwürfe gegen Demonstranten: China riskiert eine gewaltsame Eskalation in Hongkong
Die Regierung in Peking verleumdet die Demonstranten in Hongkong als „Terroristen“. Das ist womöglich eine selbsterfüllende Prophezeiung. Ein Gastbeitrag.
Slawomir Sierakowski ist Direktor des Institute for Advanced Study in Warschau und Senior Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik
Ganz gleich, ob jetzt oder in 28 Jahren, wenn die Regelung „Ein Land, zwei Systeme“ auslaufen soll: Millionen von Menschen in Hongkong wollen das Unvermeidliche abwehren – die Zwangsintegration in Festlandchina. Aber wie?
Auf der einen Seite stehen jene wie Hongkongs von Peking gestützte Regierungschefin Carrie Lam, die irgendeine Art von Einigung mit der chinesischen Regierung erreichen möchten, auf der anderen diejenigen, die weitgehend führungslos auf die Straße gehen.
Die Proteste haben eine fließende Form und noch nicht einmal einen Namen. Die Demonstranten werden schlicht als die „Leute in Schwarz“ bezeichnet. Weil sie Masken tragen, sind sie gesichtslos. Und weil sie selbst nicht wissen, was sie als Nächstes tun werden, sind sie völlig unberechenbar. Sie können an mehreren Stellen auftauchen, sich rasch versammeln und wieder zerstreuen.
Die Polizei kann sie weder fangen noch zählen noch Anführer festnehmen. Die Behörden können weder mit ihnen verhandeln noch versuchen, sie zu spalten, weil sie bereits gespalten sind. Sie sind einander unbekannt. Sie kommunizieren durch die verschlüsselte Messaging-Apps und treffen Entscheidungen spontan auf Mehrheitsbasis.
Zwischen 20 und 30 und freiheitsliebend
Trotzdem haben die Protestierenden in Hongkong eine Menge gemeinsam. Sie sind überwiegend zwischen 20 und 30 Jahre alt und wuchsen in der freien Welt auf. Sie haben ihre Taktik hybrider Kriegsführung gewählt, weil die zentral geführte „Regenschirm-Bewegung“ 2014 keine Ergebnisse erzielte. Deren Führer wurden verhaftet, und die Bewegung zerstreute sich rasch. Diesmal, ohne Führer, die sie ins Visier nehmen konnten, zogen sich die Behörden zurück, sobald sie die Steine in den Händen der Protestierenden sahen.
Die chinesische Propagandamaschinerie hat, nachdem sie die Proteste in Hongkong zunächst weitgehend ignorierte, angefangen, sie als Bedrohung darzustellen, um die chinesische Bevölkerung gegen die Demonstranten aufzuwiegeln. Und am 17. August hielten pro-chinesische Aktivisten in Hongkong eine Demonstration ab, an der nach Angaben der Veranstalter fast 500.000 Menschen teilnahmen (laut Polizeiangaben waren es eher 100.000).
Diese Propagandabemühungen waren derart himmelschreiend, dass Facebook, Twitter und Youtube rund 1000 festlandschinesische Accounts schlossen, die Falschmeldungen verbreiteten.
Hongkong als "normale" chinesische Stadt?
Bemühungen, den chinesischen Nationalismus anzuheizen, zielen klar darauf ab, den Boden für eine Intervention und den Einsatz von Gewalt zu bereiten. Chinas Medien haben Videos von in Shenzen, in unmittelbarer Nähe der Grenze zu Hongkong, mobil machenden chinesischen paramilitärischen Truppen verbreitet.
„Die Wahrscheinlichkeit, dass (der chinesische Präsident) Xi sich entschließt, die Volksbefreiungsarmee loszuschicken, damit sie die Unruhen unterdrückt, steigt mit jedem Tag“, schrieb Jamil Anderlini in der „Financial Times“, „und ich vermute, sie liegt bereits bei über 50 Prozent.“
[Aus dem Englischen von Jan Doolan. Copyright: Project Syndicate, 2019. www.project-syndicate.org]
Niemand in Hongkong kann sich auch nur vorstellen, dass die halbautonome Region einfach wie jede andere chinesische Stadt wird – wohlhabend, aber der Zensur unterworfen. Besonders den jungen Leuten erscheint es absurd, dass jemand, der beruflich vorankommen möchte, in die Kommunistischen Partei Chinas eintreten muss. Wie ein Demonstrant gegenüber der „Hong Kong Free Press“ äußerte: „Wir werden fortfahren, für Unruhe zu sorgen und Bewegungen zum zivilen Ungehorsam zu starten, bis die Regierung reagiert.“
Pekings Haltung ist der Antrieb
Doch kann die KPCh nicht einfach nachgeben. Hongkong mag Chinas Geschäftsinteressen dienen und ausländische Investoren anlocken, doch solange die Stadt frei ist, wird sie für die Menschen auf dem Festland eine Versuchung darstellen. Daher hat die chinesische Regierung versucht, die Protestierenden als „Terroristen“ zu verleumden. Doch weiß jeder, der die Demonstrationen selbst beobachtet hat, dass das Propaganda ist. Die überwältigende Mehrheit sind junge Idealisten, die lieber etwas anderes machen würden, aber die durch die zunehmend autoritäre Haltung der chinesischen Regierung auf die Straße getrieben wurden.
2014 demonstrierte Hongkongs Jugend friedlich und wurde ignoriert. Jetzt greift sie manchmal nach Steinen. Wenn die chinesische Regierung ihr weiterhin keine andere Wahl lässt, könnten sich ihre falschen Behauptungen über die jungen Leute zu einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung entwickeln. So war das mit der IRA in Nordirland und der baskischen Separatistengruppe ETA in Spanien. Falls in Hongkong etwas Ähnliches passiert, hat sich die KPCh das selbst zuzuschreiben.
Slawomir Sierakowski