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Der Retter und die große Lautlose: Die Franzosen haben Macron, uns bleibt nur Merkel.
© Thilo Schmuelgen/REUTERS

Politische Debattenkultur: Charisma und Chaos in der Politik

Politische Erlösergestalten können die Erwartungen nur enttäuschen. Wo alle auf die eine starke Hand warten, bleibt die Republik schwach. Ein Essay.

Himmel hilf! Wir ersticken! Schick uns bitte einen Retter wie Emmanuel Macron, Justin Trudeau oder Sebastian Kurz! Sauerstoff! Wir haben Merkel, die große Lautlose, wir haben Nahles, die kleine Laute, wir haben steife Retro-Ritter wie Jens Spahn oder Alexander Dobrindt, die den Habitus der Großväter als Rebellionsanzug auftragen, wir haben Christian Lindners postheroisches Charisma-Design. Wo ist der Funkenflug? Wo ist der verzauberte Führer, der uns verzaubert? Doch sind solche Sehnsuchtsrufe nicht politisch regressiv? Was folgte auf Charismatiker wie John F. Kennedy, Willy Brandt oder Barack Obama? Ließe sich das Defizit an demokratischer Inspiration nicht auch anders auflösen? Brauchen wir im 21. Jahrhundert nicht ein anderes Verständnis von charismatischer Führung? Ist das Aura-Alpha-Tier zeitgemäß?

Es bleibt ein Gefühl der Entzauberung

David Letterman, der legendäre US-Late-Night-Talker, trägt jetzt einen biblischen Bart. Der hagere Dave, früher bekannt für seinen ironisch-sarkastischen Stil, ist unter die Jünger gegangen, unter die bußfertigen Gläubigen. In der ersten Folge seiner neuen Talkshow „My next guest needs no introduction“ war Barack Obama zu Gast, der 44. Präsident der Vereinigten Staaten und Lettermans Messias. Obama war souverän, witzig, schlagfertig, virtuos in der Adressierung seiner Botschaften und sehr sehr charismatisch. Man fühlte sich sofort eingehüllt in einen Mantel aus Fürsorge und Vorbildlichkeit, man war als Zuschauer bereit, vom Sofa auf die Knie zu fallen, sich zu beugen und doch … ja … und doch blieben Zweifel, es blieb ein Gefühl der Enttäuschung und Entzauberung. Warum?

Letterman sprach Obama mehrfach als „Mr. President“ an und meinte, er müsse sicher gleich ins Oval Office. In dieser Pointe lag ein Stück Wirklichkeitsausblendung und Verdrängung, denn der Name des Lord Voldemort der Politik sollte nicht genannt werden. Kann es sein, dass Obamas Charisma etwas zu tun hat mit dem Erfolg des destruktiven Charismatikers Donald Trump? Obama agierte auf der Bühne seines Amtes stets integrativ und konsensorientiert, sprachlich, gestisch und performativ. Er hat Maßstäbe gesetzt. Und doch scheint sein gemeinschaftsstiftendes Charisma polarisierende Effekte erzielt zu haben. Obama sah immer die richtigen Serien („The Wire“), er las immer die richtigen Bücher, er hörte immer die richtige Musik, er traf immer – und sei die Situation noch so verzweifelt (Amoklauf, Schulmassaker) – den richtigen Ton. Doch diese stilistische Perfektion hatte Schattenseiten und das meint nicht die politischen Vollzugsdefizite, die Kluft zwischen Ankündigung und Verwirklichung, sondern die – unabsichtlich – deklassierenden und exkludierenden Potenziale dieser exklusiven Ausstrahlung. Der skrupellose Immobilienspekulant Trump säte hier Gift: Ist der Typ, sorgte sich The Donald, überhaupt in Amerika geboren? Hat jemand seine Geburtsurkunde gesehen? Im Gegensatz zu Obama las Trump keine Bücher, sondern Geschäftsberichte, er sah keine Serien, er war seine eigene Show („The Apprentice“), er sammelte Häuser, Frauen, Pleiten, er – der narzisstische Spieler – tat nie das Angemessene.

Obama ließ den "Durchschnittsmenschen" klein und kümmerlich aussehen

Aber gerade weil der Mann seine eigene Show ist, vertrauen ihm seine Wähler, halten ihn für authentisch und charismatisch. Seine Art zu reden und zu performen spricht diejenigen an, die sich als ausgestoßen betrachten, jene „Durchschnittsmenschen“, die sich gedemütigt fühlen, nicht zuletzt von einem afroamerikanischen Charismatiker, dessen habituelle Unverwundbarkeit, dessen Deluxe-Charisma sie klein und kümmerlich aussehen ließ. Obamas Strahlkraft weckte die rassistischen Geister, obgleich der Präsident alles tat, um solche Spannungen abzubauen. Je charismatischer Obama agierte, desto anfälliger wurden die Wähler für den Charisma-Clown Trump, der nicht die Weltbühne suchte, um zu versöhnen, sondern stets das nächste Mikro, um nationalistisch zu prügeln.

Unser althergebrachtes Charisma-Verständnis, geprägt von Max Weber, hat viele blinde Flecken. Können denn nur Männer charismatisch sein? Wo sind die Führerinnen, die Seherinnen? Welche Rolle spielen die Medien in der Ausbildung von charismatischer Herrschaft? Lässt sich im 21. Jahrhundert noch zwischen Aufrichtigkeit, Authentizität, Maske und Inszenierung unterscheiden? Können nicht auch Kollektive charismatisch agieren? Müssen Charismatiker versöhnungsorientiert sein oder sollen sie rebellieren? Und können Populisten nur siegen, wenn ein Charismatiker an ihrer Spitze steht?

Kann Charisma auch von einem Kollektive ausgehen?

AfD-Fraktion im Bundestag: Partei der Dilettanten oder charismatisches Kollektiv?
AfD-Fraktion im Bundestag: Partei der Dilettanten oder charismatisches Kollektiv?
© Kay Nietfeld/dpa

Es ist oft beschrieben worden, dass es der AfD an einem charismatischen Anführer fehle, sie sei eine „Partei der Dilettanten“, keines ihrer prominenten Gesichter könne mit Charisma-Potenzial aufwarten. Doch diese Diagnose übersieht mindestens zweierlei: Gerade das Fehlen einer resonanzbegabten Führungsgestalt macht die Stärke dieser Partei aus und außerdem kann Charisma auch von einem Kollektiv ausgehen oder das Kollektiv kann durch Charisma-Sehnsüchte formiert werden oder es wird als Charisma-Surrogat begriffen. Die AfD versteht sich ja tatsächlich als ins Parlament entsandter Volkswille, als unmittelbare Demokratie, die dem kranken Parlament wie ein Antidot injiziert wird. Diese Selbstwahrnehmung der AfD, die zugleich ein vorherrschendes Gefühl ihrer Wähler zu sein scheint, macht die Auseinandersetzung mit diesem Charisma-Kollektiv so schwierig. Denn wer diesen Block rhetorisch prügelt, verachtet oder „ausgrenzt“, füttert das Kränkungs- und Bevormundungsnarrativ dieser Volksvertreter, weil sie sich als Gestalt gewordener authentischer Volkswille verstehen. Sie sind keine Repräsentanten, denn das würde sie dem Volk entfremden, vielmehr sind sie selbst das Volk inmitten von volksfernen Politprofis und Ego-Artisten. Nimmt man die AfD in toto aufs Korn, läuft man Gefahr, die Ressentiments, von denen sie lebt, „da draußen“ beim Wähler zu bestärken, denn die AfD ist das dilettantische Draußen im professionellen Drinnen, ihr Scheitern auf offener parlamentarischer Bühne ist zunächst kein Einspruch gegen ihre vermeintliche Authentizität. Da ihre Abgeordneten in erster Linie Gefühlsabgesandte sind, die den Groll gegen die Globalisierung, die Wut auf die etablierten Parteien, die Sorge um die soziale Existenz, die Angst vor dem Fremden, die Ohnmacht gegenüber der Definitionsmacht der Experten und die Demütigung durch die kulturellen Eliten repräsentieren, ist es so schwer, die Partei argumentativ, thematisch oder emotional zu stellen.

Gerade das Diffuse, das Wolkige, das Laienhafte, die zur Schau getragene Kränkung steigert für manche Wähler die Anziehungskraft dieser Formation. Die Wähler der AfD wollen „die Ihren“ durch die Kontrahenten nicht zerlegt sehen, sondern verstanden wissen, sie wollen nicht unisono als Rassisten und Neonazis stigmatisiert, sondern als Einheimische, Heimattreue und Unerhörte begriffen werden. Spricht man der AfD die demokratische Legitimität ab, spricht man ihr ab, den Willen ihrer Wähler zu vertreten, dann argumentiert man ebenso populistisch und ausgrenzend wie diese, wenn sie behauptet, nur sie und ausschließlich sie vertrete den wahrhaften Volkswillen. Die autoritäre Behauptung „Wir sind das Volk“ ist die Zauberformel der Populisten weltweit, denn sie verspricht Überschaubarkeit, wo die Welt unüberschaubar ist, sie verspricht Homogenität, wo immer Heterogenität war, sie verheißt Heimat, wo immer Heimaten waren, sie bannt das Beunruhigende, wo stets Unruhe war, und sie stellt Stabilität in Aussicht, wo Beweglichkeit und Wandel gefragt sind.

Die hypernervöse Netzwelt verhindert Reifeprozesse von Politikern

Vor diesem Hintergrund ist das Charisma-Kollektiv womöglich die spätmoderne Alternative zum früheren charismatischen Führer der Moderne; dieser traditionelle Typus wie Willy Brandt hätte in einer durch und durch medial generierten Transparenzgesellschaft keine Chance mehr, weil die hypernervösen Netz- und Bildwelten einen historischen Reifeprozess nicht mehr erlauben. Wenn das so wäre, steckte in diesem Befund etwas ebenso Beruhigendes wie Beunruhigendes. Das Publikum, könnte man meinen, hat sich vom charismatischen Führer emanzipiert, weil es verstanden hat, dass diesem kaum jemals die Lösung komplexer Probleme gelingen konnte, sondern er mit seinen großen Versprechen eher dazu beitrug, neue Probleme auf die alten zu türmen. Das wäre die hoffnungsvolle Lesart. Dem entgegen steht die Befürchtung, dass die Wähler, die sich im Wettlauf um Aufmerksamkeit und Einzigartigkeit abgehängt fühlen, das Charisma-Kollektiv auf die parlamentarische Reise schicken, um ihren kompromisslosen und authentischen Gefühlswillen rücksichtslos durchzusetzen.

Heute will jeder einzigartig sein, da wird der Platz für Charismatiker eng

Wenn jeder ständig auf Sendung ist, wird der Platz für Charismatiker eng.
Wenn jeder ständig auf Sendung ist, wird der Platz für Charismatiker eng.
© Foto: Christoph Schmidt/dpa

Ein anderes Argument, warum der Charismatiker alten Schlages obsolet ist, liefert der Soziologe Andreas Reckwitz mit seiner Studie „Die Gesellschaft der Singularitäten“. Darin zeigt er, wie wir alle dem Leitbild des einzigartigen, des eigenwilligen, des spektakulär anderen Lebens hinterher jagen, alle wollen Charismatiker sein oder zumindest als solche wahrgenommen werden. Jeder arbeitet bienenfleißig an der Ego-Verzauberung, an der Nobilitierung der eigenen Biografie, jeder will den Jedermann in sich töten. Wo ist da – in einer Gesellschaft der Einzigartigen – noch Platz für einzigartige Anführer? Sollten wir uns nicht von unserer Sehnsucht nach dem heilsbringenden Leader verabschieden?

Das Narrativ vom großen Anführer macht blind für andere Führungsbegabungen

Blickt man etwa auf die alte Bonner Republik zurück, entdeckt man, dass das Narrativ vom großen Anführer blind macht für andere Führungsbegabungen. Natürlich hat es damals auch charismatische Frauen gegeben, es hat charismatische Momente gegeben, die von Frauen erzeugt wurden, weil ihre Stimmen eine andere emotionale Tonalität hatten, weil sie – neben der unbestrittenen Sachkompetenz – bereit waren, ihre oder unsere „Wunden zu zeigen“, statt in der parlamentarischen Debatte nur auf die Panzer der anderen einzuschlagen oder das große visionäre Wort zu führen. Man denke an Elisabeth Schwarzhaupt (CDU), die erste Bundesministerin der Bundesrepublik, man denke an die Grüne Petra Kelly, man denke an die temperamentvolle Renate Schmidt (SPD), an die couragierte Renate Hellwig (CDU), die oft genug Helmut Kohl die Stirn bot, was auch auf die beharrlich aufklärerische Rita Süssmuth zutrifft, man denke an die geschliffen sprechende Ingrid Matthäus-Maier (SPD), an die aufrechte Hildegard Hamm-Brücher (FDP), man denke an die ebenso kluge wie mutige Grüne Waltraud Schoppe und an ihre Parteikollegin, die authentische Christa Nickels. Sie alle hatten charismatisches Potenzial und haben dem Bundestag Sternstunden beschert, die über den Alltag hinausreichten, weil sie Parlament und Gesellschaft mit Sauerstoff, Leben und Transzendenz versorgten.

Lautlos-Effizienzen und Sachzwang-Apostel machen die Politik farblos

Es braucht heutzutage nicht so sehr charismatische Führer, die die Bürger in ein stummes oder nur akklamierendes Gefolgschaftsverhältnis versetzen, vielmehr braucht es charismatische Momente, Debatten und Dialoge, die die Bürger selbst zu Charismaträgern werden lassen; das heißt, dass wir uns in der Gesellschaft der Singularitäten unser vermeintlich jeweils Besonderes, unser jeweils Authentisches und Einzigartiges nicht stolz um die Ohren schlagen, sondern es erst im kommunikativen Miteinander erringen und es auch einsetzen, um demokratische Prozesse zu vitalisieren. Wo alle auf die starke Hand warten, ist die Republik schwach. Es gilt, die Demokratie und ihre Institutionen selbst als charismatische Erzählungen und charismatische Quellen zu entdecken; wir, die Einzigartigen, müssen die Politik daran erinnern, dass sie regressive Sehnsüchte weckt, wenn sie sich nur auf Lautlos-Effizienzen, Sachzwang-Apostel und den „Typus des Büroleiters“ (Franz Walter) verlässt. Wie können wir annehmen, etwas Besonderes zu sein, wenn wir es zulassen, dass unser Parlament zum charismafreien und visionslosen Büro erstarrt? Wie können wir glauben, etwas Besonderes zu erreichen, wenn wir nicht eine Gesellschaft verteidigen, wo jedermann auch davon träumen kann, kein Ausnahmemensch werden zu müssen? Wir brauchen Charismatiker eben nicht nur, um den Alltag außer Kraft, sondern auch, um ihn in sein Recht zu setzen.

Der Autor lebt als Schriftsteller und Journalist in Berlin.

Torsten Körner

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