"Werkstattgespräch": CDU will "kein Scherbengericht" über Merkels Flüchtlingspolitik
Die neue CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer lädt ein, um über die Politik der alten zu sprechen. An eine Abrechnung ist dabei nicht gedacht.
Annegret Kramp-Karrenbauer ist kurz abgelenkt, aber ausgerechnet damit genau bei der Sache. Die CDU-Chefin steht am Sonntagabend auf einem Podium im Konrad-Adenauer-Haus und begrüßt die Teilnehmer ihres „Werkstattgesprächs“ zur Migration. Plötzlich macht sich kicherndes Gelächter breit. Hat sie wirklich „... wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ...“ gesagt?
Hat sie. Kramp-Karrenbauer muss selber lachen. Dabei ist der Freud’sche Versprecher nur zu verständlich. Die SPD plagt sich immer noch mit der Hartz- IV- Reform. Zwei halbe Tage in der CDU-Zentrale sollen verhindern helfen, dass es CDU und CSU mit der Flüchtlingspolitik genau so geht.
Nicht alle halten das Werkstatt-Format für geeignet, aber Kramp-Karrenbauer mag sich auf abstrakte Sinndebatten so wenig einlassen wie auf die Frage, ob das „eine Art Tribunal“ über Abwesende werden soll oder nicht: Was aus der Werkstatt herauskomme, werde man sehen. Andere hätten diesen heiklen Punkt aber lieber vorab geklärt. Das Treffen werde „ganz sicherlich überhaupt gar kein Scherbengericht“ über Angela Merkel, versichert Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl, bevor er ins Adenauer-Haus geht.
Die CDU-Zentrale besteht außen rundherum aus Glasfassaden. Das passt. Strobl hat damals in der Unionsfraktion Merkels Flüchtlingspolitik immer mitgetragen, alle Parteitage haben sich hinter die damalige Vorsitzende gestellt. Steinewerfen im Adenauer-Glashaus erscheint bei dieser Vorgeschichte keine gute Idee.
Der Abgesandte der CSU neigt passenderweise auch nicht zur Randale: „Wir müssen gemeinsam in die Zukunft schauen“, sagt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann mit besten Grüßen von seinem Chef Markus Söder. „Es bringt nichts, sich ewig mit der Vergangenheit aufzuhalten.“
Thomas de Maizière nimmt im Vorfeld die Luft raus
Noch ein anderer nimmt im Vorfeld Luft aus dem Treffen. Thomas de Maizière hat ein Buch geschrieben, in dem er über seine Zeit als Innenminister berichtet. Im Vorabdruck im „Spiegel“ über die Tage im September 2015 stellt de Maizière klar: Nach der ersten Flüchtlingswelle aus Ungarn die Grenzen zu schließen wäre rechtlich möglich gewesen, „aber keineswegs zwingend, wie seither immer behauptet wird“.
Er habe sich der Mehrheitsmeinung seiner Hausjuristen angeschlossen, vor allem aber politisch entschieden. Polizisten, die mit Schilden und Gummiknüppeln Flüchtlinge zurückjagen, wilde Lager an der Grenze zu Österreich: „Ich war überzeugt davon, dass wir nach wenigen Tagen angesichts dieser Bilder aufgegeben hätten und die Grenzkontrollen so durchgeführt hätten, wie wir sie von Beginn an durchgeführt haben.“
Damit hat sich im Grunde die Diskussion der unterschiedlichen juristischen Schulen über das Recht an der Grenze erledigt. Die eingeladenen Experten halten sich mit Rückschau denn auch nicht weiter auf. Auf dem Podium prallen stattdessen zwei Grundpessimisten auf zwei Skeptiker, die die Probleme trotzdem für lösbar halten. Den Provokateur gibt der Frankfurter Politologe Egbert Jahn. „Die Fluchtursachen werden wir in den nächsten Jahrzehnten nicht abbauen“, sagt Jahn. An Abkommen mit weiteren Herkunfts- und Transitländern glaubt er nicht so richtig. An „politische Integration“ der Flüchtlinge glaubt er gar nicht. Dafür malt er den Untergang des Abendlands aus: „In 40 Jahren kommt der Antrag: Die CSU wird in christlich-muslimische soziale Union umbenannt!“
Das mögen die anderen denn doch nicht unterschreiben. „Mir wirkt München nicht wie die Hauptstadt eines failed state“, spottet der geistige Vater des EU-Türkei-Abkommens, Gerald Knaus. Jahn grummelt später selber, dass er’s wohl etwas übertrieben habe. Der Bonner Staatsrechtler Christian Hillgruber findet allerdings, dass die meisten Flüchtlinge gar nicht erst bis Deutschland kommen dürften – „Die Flucht vor dem Bürgerkrieg endet in den Lagern im Libanon.“ – und dass man sich die Integration im Grunde sparen könne, weil der Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge „von seiner ganzen Anlage her ein temporärer Schutz“ sei. Das ist jetzt den wieder anderen zu theoretisch: Ob er denn glaube, dass in absehbarer Zeit Syrer in ihre Heimat zurückkönnten?
Knaus und der Konstanzer Europarechtler Daniel Thym plädieren für den Blick aufs Machbare. Nichts bekomme der Debatte schlechter als Prinzipienreiterei, warnt Thym: „Das Moralisieren ist genau so eine einfache Antwort wie die Abschottung.“ Beide sparen nicht mit Kritik. „In 2015 hatten wir einen teilweisen Kontrollverlust“, sagt Thym. „Der größte Fehler Berlins war zu denken: Wir kriegen hier ganz schnell eine europäische Lösung hin!“, sagt Knaus.
Gerald Knaus fordert eine "Koalition der Willigen"
Andererseits halten beide nichts vom Jahnschen Nihilismus. „Deutschland ist absolut isoliert ... Orban hat gesiegt, nicht Merkel hat gesiegt!“ stichelt der Frankfurter. Knaus räumt ein, dass es in vielen Ländern zur Politik geworden sei, Flüchtlinge möglichst schlecht zu behandeln. Aber weder eine christliche Partei wie die CDU noch Deutschland insgesamt könne diesen Weg gehen: „Wir können nicht sagen, wenn wir die Leute nur schlecht behandeln, dann gehen sie wieder nach Bulgarien!“ Er plädiert für eine „Koalition der Willigen“ in Europa, die in einer klugen Mischung aus Außen- und Integrationspolitik die Probleme angehen müsse.
Nach gut zwei Stunden bedankt sich Kramp-Karrenbauer. Im Schlusswort sind sich alle Diskutanten zumindest darin einig, dass man viel mehr miteinander reden müsse. Selbst der Provokateur Jahn plädiert für Kompromisse zwischen den Parteien. Keine leichte Aufgabe, schwant der Gastgeberin: „Das ist keine Debatte, die mit dem heutigen Tag beendet ist“, verspricht Kramp-Karrenbauer ihrer Partei. Für die stand wohl am ehesten der Polizist aus Frankfurt, der sich als letzter aus dem Publikum meldete: „Ich bin in einer offenen und freien Gesellschaft groß geworden“, sagt der Mann. Er würde die gerne seinen Kindern weitergeben – geschützt durch einen starken Staat vor allen, die ihn herausforderten.