Referendum für Kurdistan: Bundesregierung setzt auf Restauration statt Fortschritt
Wichtiger als die Bundestagswahl ist für den Frieden im Nahen Osten die Zukunft der Kurden. Doch die Bundesregierung hilft den Klerikern, Monarchen, Despoten. Eine Analyse.
Wenn die Deutschen an diesem Sonntag wählen, geht es vielen darum, wer das Land in den nächsten vier Jahren vor Anschlägen, Mietsteigerungen und Schulchaos bewahrt. Um Deutschlands internationale Beziehungen geht es nicht. Dabei eskaliert im Nahen Osten ein Konflikt, der wirkmächtiger ist als der Streit um Israel und Palästina: der Kampf um Kurdistan. Deutschland spielt dabei eine unrühmliche Rolle.
Für diesen Montag hatte die Spitze der irakischen Kurden zum Referendum über ein unabhängiges Kurdistan aufgerufen. Die Zentralregierung in Bagdad will das genauso verhindern wie die Machthaber der Türkei, Irans, letztlich Syriens. Für viele Kurden überraschend ist auch das US-Außenministerium gegen die Wahl.
Ob die kurdische Regionalregierung in Erbil um Massoud Barzani die Wahl noch durchzieht, wäre fast unerheblich, wenn Bagdad, Ankara und allerlei Islamisten nicht mit Angriffen gedroht hätten - die Türkei hat am Wochenende erneut kurdische Stellungen in Nordirak bombardiert. Unerheblich deshalb, weil deutlich wird: Wieder bleiben die Kurden allein.
Ausgerechnet Deutschland warnt vor neuen Staaten?
Mit den Herrschern im Nahen Osten legen sich die Entscheider im Westen dann nicht an, wenn es darum geht, selbstbewussten Säkularen zu helfen. Wenn Modernisierer, die ihre Rohstoffe und Arbeitskräfte gern selbst nutzen, ein wenig Demokratie fordern. Da redet man in Berlin davon, Fluchtursachen zu bekämpfen und Strukturen vor Ort zu stärken – doch sobald regionale Kräfte multiethnische, selbstbestimmte Räte gründen und Terror-Moscheen schließen, unterstützt Berlin doch lieber die üblichen Kleriker, Monarchen, Despoten.
Die für den 25. September geplante Abstimmung, die ohne Zweifel die Befürworter Kurdistans gewinnen würden, bliebe so ohne Erfolg. Als einer der Ersten warnte Außenminister Sigmar Gabriel davor, „Staatsgrenzen neu ziehen zu wollen“ – ganz so, als hätte es die deutsche Vereinigung oder den Nato-Krieg für Kosovo nie gegeben. Für Deutschland sind Recep Tayyip Erdogan (trotz deutscher Geiseln), die Golfmonarchien, die hinter den Islamisten in Syrien stehen, ja selbst der Iran offenbar bequemer als eine tatsächliche Neuordnung. Und so hat sich in Nahost ein neues Kartell der Reaktion gebildet: Obwohl sich in Syrien die schiitischen Milizen der Mullahs und die sunnitischen der Türkei bekämpfen, sind sich Teheran und Ankara in der Kurdenfrage vorerst einig.
Tragisch: Erdogan und Öcalan verhandelten über Frieden
Fairerweise sei erwähnt, dass die Bundesregierung irakischen Kurden im Kampf gegen den IS mit Gewehren half. Eine Geste – große Geschäfte werden mit anderen gemacht. Schätzungsweise 30 Millionen Kurden gibt es. Die meisten Kurden leben in der Türkei, wo die auch in Deutschland verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK stark ist. Es ist nicht lange her, da verhandelten der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan und Erdogan über Frieden – die meisten Kurden wählten Erdogans einst konservativ-soziale AKP. Dann versank Syrien im Krieg. Erdogan rüstete Islamisten auf, um die PKK-Schwesterpartei PYD anzugreifen. Die erkämpfte nämlich die syrische Autonomieregion Rojava. In der Türkei gewann die linksliberale, prokurdische HDP millionenfach Stimmen.
Das kurdische Selbstbewusstsein wuchs. Ein grenzübergreifendes Gemeinschaftsgefühl entstand. Die USA haben das erkannt. Sie brauchen die Kurden im Anti-IS-Kampf und respektierten ihren Wunsch nach Autonomie. Erdogan sucht derweil die Allianz mit den iranischen Mullahs. In diesem Chaos können sich Ankara, Teheran, Damaskus als auch ihre Feinde, die Golfmonarchien, auf wen verlassen? Auf Berlin. Deutschland setzt auf Restauration. In keinem EU-Staat wird die PKK so scharf verfolgt wie in Deutschland, keine Regierung hält so hartnäckig an den Machthabern in Syrien und Irak fest. Nach dem Flüchtlingsdeal mit Erdogan wurde das PKK-Verbot in Deutschland auf Symbole der syrisch-kurdischen PYD ausgeweitet, jene Partei, deren Logo in Syrien auch von US-Soldaten getragen wird.
In Belgien und Skandinavien wird die PKK nicht verfolgt
Inzwischen beabsichtigt die Bundesregierung, sogar Öcalan-Konterfeis auf Demonstrationen zu verbieten. Dass selbst in der CDU einige über eine Neubewertung der PKK nachdachten, weil sie in Nahost die verfolgten Christen schützt, wird die Lage kaum ändern: Rheinmetall will mit den Türken bald gemeinsam Waffen fabrizieren. Dabei geht es anders. In Belgien stellte ein Berufungsgericht in einem Prozess um kurdische Aktivisten fest: Die PKK ist keine Terrororganisation, sondern eine legitime Kriegspartei. In Skandinavien sieht man das ähnlich.
Was Berlin tun muss? Zunächst anerkennen, dass Syrien und Irak als Zentralstaaten nicht zu retten sind. Dass die Kurden das Recht auf einen Staat haben. Dass es zur Föderalisierung des Nahen Ostens trotzdem keine Alternative gibt – zumal die meisten Kurden nicht in Nordirak leben. Dass also der rigide Zentralismus der regionalen Regimes überwunden werden muss. Am Freitag fanden im syrischen Kurdengebiet Rojava deshalb Kommunalwahlen statt, mehr als 12.000 Kandidaten aller Ethnien traten an. Auch in Nordirak engagieren sich viele Nichtkurden. In Erbil lebt es sich eben heute schon besser als in Bagdad.