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Die Tatwaffe, mit der Sharif die Kurden im Mykonos erschoss.
© Nowak (2), Polizei, dpa (2), AP, Zeichnungen: Christine Böer

Mykonos-Attentat vor 25 Jahren: Mord im Namen der Mullahs

Iranische Agenten stürmen ein Restaurant in Berlin, erschießen vier Exilanten. Genau 25 Jahre ist das her. Rekonstruktion eines Verbrechens, das die Weltpolitik erschütterte.

Wenn der Sommer in den Herbst übergeht, sich in Berlin die ersten Blätter färben, wird Parviz Dastmalchi nervös. Je näher der 17. September rückt, desto wilder träumt er. Seit 25 Jahren geht das so. Auch wenn die nächtlichen Bilder heute nicht mehr so aufwühlend sind wie in den Neunzigern. In seinen Träumen damals raste Dastmalchi über die Autobahn, auf der sich plötzlich Blöcke türmen, er kann nicht bremsen – und wacht im Moment des Aufpralls auf. Oder der Traum mit dem Galgen: Dastmalchi im Iran, zum Tode verurteilt, die Schlinge reißt bei der Hinrichtung.

Seinen eigenen Tod träumt man nicht. Der Mensch wacht rechtzeitig auf. Beim Psychologen war Dastmalchi nur einmal. Damals, vor 25 Jahren. „Was sollte der erzählen?“, fragt Dastmalchi. „Ich wusste, was ich erlebt habe.“

Heute weiß nicht nur er es. Parviz Dastmalchi überlebte Berlins erstes islamistisches Attentat. Als Zeuge trat er in einem der weltweit spektakulärsten Prozesse wegen Staatsterrors auf. Und Dastmalchi trug dazu bei, dass der Iran heute kritischer betrachtet wird als damals – ja, dass der Blick auf fundamentalistische Anschläge und konfessionelle Schlachten im Nahen Osten ein anderer wurde. In jenen Tagen rückten auch die Kurden ins öffentliche Bewusstsein. Sie sind daraus, wie aktuelle Nachrichten zeigen, nicht verschwunden.

Am Abend des 17. September 1992 stürmten muslimische Fundamentalisten im Auftrag des Iran das Mykonos.
Am Abend des 17. September 1992 stürmten muslimische Fundamentalisten im Auftrag des Iran das Mykonos.
© Nowak(2), Polizei, dpa(2), AP, Zeichnungen: Chr. Böer

Dastmalchi ist ein kleiner, lebhafter Mann mit ergrauten Haaren. Meist trägt er Hemd, manchmal Weste. Im Spätsommer 2017 steht der 68-Jährige wieder an dem Ort in Berlin-Wilmersdorf, mit dem sich der Name eines griechischen Lokals verbindet. Mykonos. Er schaut in die Erdgeschossfenster in der Prager Straße 2. Eine Kita öffnet hier, zu sehen sind Puppen, Kissen, Mini-Stühle.

Nichts erinnert mehr an den 17. September 1992, als Dastmalchi hier auf einem Restaurantstuhl Platz genommen hatte. Das Mykonos wurde von einem iranischen Landsmann betrieben, der griechische Speisen servierte. An jenem Donnerstag hatte er zwei Tische zu einer Tafel für acht Gäste zusammengeschoben. Um 19.30 Uhr kamen die Ersten von ihnen, Kurden aus dem Iran. Darunter der Generalsekretär, der Europa- und der Deutschlandvertreter der Demokratischen Partei Kurdistans im Iran.

Dastmalchi stieß später dazu, er ist Perser. Die acht Männer kämpften gegen die Mullahs, die nach der Revolution 1979 im Iran einen Gottesstaat errichtet hatten. Aus Angst vor Irans Geheimdienst Vevak war der Generalsekretär der Kurdenpartei im Exil oft umgezogen, zuletzt hatte er in Paris gelebt. Dastmalchi, der erst als Student, dann als Flüchtlingsheimleiter mit Frau und Tochter in Berlin gewohnt hatte, war von Mitarbeitern des iranischen Konsulats aufgefordert worden, der Opposition abzuschwören und sich zum Regime zu bekennen. Er lehnte ab. Daraufhin zogen die iranischen Beamten 1981 seinen Pass ein. Er kann bis heute nicht in die Heimat zurück.

An jenem Septemberabend im Mykonos waren die acht Männer dennoch entspannt und voller Hoffnung. Auf dem Tisch standen Grillplatten, Weingläser. Nur Stunden zuvor hatte im Reichstagsgebäude an der ehemaligen Mauer – der Bundestag befand sich noch in Bonn – der 19. Kongress der Sozialistischen Internationale getagt. SPD-Chef Björn Engholm sprach dort mit Sozialdemokraten aus aller Welt, auch mit den iranischen Kurden. Was sie ermutigte, zu glauben, dass die Eliten im Westen sich für den Kampf um einen demokratischen, föderalen Iran interessieren.

Zur selben Zeit besorgten zwei Libanesen in Reinickendorf eine Sporttasche. Abends trafen sie sich mit einem dritten Libanesen im Senftenberger Ring in der Wohnung eines iranischen Studenten. Der war verreist, über den Schlüssel verfügte Kazem Darabi, damals 33 Jahre alt.

Der Iraner lebte seit 1980 in Deutschland. Wochenlang hatte er libanesische Asylbewerber aus Berlin und Westfalen auf das Treffen der Kurden vorbereitet. Zu zweit, zu dritt oder zu viert berieten sich die Männer in Darabis Wohnung in der Detmolder Straße, im „Islamischen Zentrum“ in der Reichenberger Straße und in der Imam-Cafer-Sadik-Moschee in der Koloniestraße. Darabi, stellte das Berliner Kammergericht später fest, galt als „Boss“. Anfang September 1992 flogen zwei weitere Iraner nach Berlin. Den Libanesen stellten sie sich als Sharif und Mohamed vor. Einige der Verschwörer waren zuvor am Kaspischen Meer ausgebildet worden, um im Libanon für die Hisbollah zu kämpfen. Die laizistischen Kurden sind bis heute ihre Feinde.

Das von einem Iraner betriebe griechische Restaurant in Berlin-Wilmersdorf.
Das von einem Iraner betriebe griechische Restaurant in Berlin-Wilmersdorf.
© Nowak(2), Polizei, dpa(2), AP, Zeichnungen: Chr. Böer

Darabi verbrachte jenen Donnerstag mit seiner Frau und den drei Kindern vorsichtshalber in Hamburg. Als im Mykonos die Gäste eintrafen, erschien als sein Stellvertreter der Iraner Sharif in der Wohnung im Senftenberger Ring. Zunächst befahl er den Libanesen zu beten – als schiitische Muslime huldigten sie den Mullahs im Iran.

Um 21 Uhr klingelte das Telefon im Senftenberger Ring. Es war offenbar der Anruf eines Spitzels – was nie völlig aufgeklärt wurde. Der Unbekannte hatte zuvor verraten, dass sich die Kurden im Mykonos treffen würden, nun gab er das Signal zum Losschlagen. Nach dem Anruf prägten sich die Attentäter noch einmal Porträts der Männer ein, auf die sie im Restaurant treffen würden. Sharif wies zwei Libanesen an, mit einem BMW loszufahren und die eigens besorgten Waffen in der Sporttasche mitzunehmen. Das Auto parkten sie in der Prinzregentenstraße. Der dritte Libanese fuhr mit Sharif in wechselnden Taxis hinterher. In Wilmersdorf angekommen, holte Sharif die Tasche aus dem BMW. Während sein Landsmann mit einem Begleiter im Wagen blieb, gingen sie zu dritt auf das Mykonos zu, einer wachte vor der Tür. Zu zweit traten sie ein. Es war 22.50 Uhr.

„Die Teilnehmer waren gerade beim Essen“, stellte das Gericht fest. „Sie hatten das Nahen der Täter nicht bemerkt.“ Parviz Dastmalchi erfasste die Lage nur instinktiv. „Ich habe mich zu meinem Nachbarn gebeugt, um ihn besser zu verstehen“, sagt Dastmalchi und zeigt an eine Stelle, an der heute Krippenstühle stehen. „Plötzlich tauchte neben mir ein Vermummter auf.“

Das war Sharif, der auf Farsi schrie: „Ihr Hurensöhne!“ Aus der Sporttasche schoss er mit einer Maschinenpistole, Kaliber neun Millimeter, durch den Raum. „Instinktiv stieß ich mich nach hinten“, sagt Dastmalchi. Millisekunden später wäre er getroffen worden, denn Sharif schwenkte die Maschinenpistole. „Der Europavertreter der Partei lag neben mir, sein Mund voller Blut.“

Dastmalchi bleibt reglos liegen, erwartet den Tod

Überlebender: Parviz Dastmalchi, 68, steht am Tatort in der Prager Straße. Heute befindet sich dort eine Kita.
Überlebender: Parviz Dastmalchi, 68, steht am Tatort in der Prager Straße. Heute befindet sich dort eine Kita.
© Kitty Kleist-Heinrich

Die drei Parteifunktionäre und ein vierter Oppositioneller, der im Reichstag übersetzt hatte, brachen von Kugeln getroffen zusammen. Geschosse verletzten einen fünften Gast und den Wirt. Dastmalchi blieb reglos liegen. Nun schoss der zweite Täter den Kurden mit einer Pistole, Kaliber 7,65 Millimeter, in den Kopf. Dastmalchi dachte: „Jetzt tötet er auch mich.“ Doch plötzlich stürmten die Vermummten aus dem verwüsteten Lokal und rannten zu dem BMW in der Prinzregentenstraße. Mit dem Fluchtwagen rasten die fünf Verschwörer in die Cicerostraße. Dort stellten sie den BMW ab und schmissen die Tasche mit den Waffen unter ein Auto. Zwei Libanesen fuhren ein paar Tage später nach Westfalen zurück. Sharif, Mohamed und der dritte Libanese flogen nach Teheran. Auch Darabi reiste in den Iran. Zum Rapport.

Schon der Schah ließ im Iran foltern und morden. Als er 1979 von den Mullahs gestürzt wurde, änderte sich für die Kurden wenig. Das religiöse Oberhaupt, Ayatollah Khomeini, rief zum Dschihad gegen sie auf. Bis heute wollen die Mullahs ein zweites Mahabad verhindern. So wird die Kurden-Republik genannt, die 1946 unter dem Schutz von Sowjettruppen im Westiran existierte und nach elf Monaten von der iranischen Armee überfallen wurde. Errichtet hatte den winzigen Staat jene Demokratische Partei Kurdistans, deren neue Führung nun im Mykonos in ihrem Blut lag. Die Mullahs fürchteten, dass die Exilanten im Westen einflussreiche Verbündete finden würden – und suchten, die Opposition einzuschüchtern.

Die Spuren des Agenten in Berlin (für eine Nahansicht klicken sie auf die Karte).
Die Spuren des Agenten in Berlin (für eine Nahansicht klicken sie auf die Karte).
© tsp

Der iranische Geheimdienst Vevak stellte Oppositionellen weltweit nach. In Hamburg und Genf wurden 1987 desertierte Piloten erschossen, in Wien 1989 schon die frühere Spitze der Demokratischen Partei Kurdistans getötet. Nach Morden in Paris starb 1992 ein Dichter in Bonn. Und 1993 wurde ein Überläufer in Rom ermordet.

Oft kamen die Täter davon, weil sich keine Regierung mit dem Iran anlegen wollte. In Wien genossen die Täter offiziell den Schutz der iranischen Botschaft. Österreich kannte die Mörder, ließ sie aus Gründen der Staatsräson entkommen.

Doch das Attentat im Mykonos sollte sich als der eine Anschlag herausstellen, der zu viel war. Obwohl die Ausgangslage für Attentäter, in Berlin zuzuschlagen, historisch betrachtet gut war.

Bis 1989 schützte die Mauer vor Irans Geheimdienst, die DDR unterstützte die iranische Opposition. Nach dem Mauerfall begannen die iranischen Agenten, sich sicherer zu fühlen. Zudem exportierte die Bundesregierung 1992 mehr als andere Industriestaaten in den Iran, Waren für umgerechnet 4,1 Milliarden Euro. Doch der Vierfachmord wird nicht nur Berlin, die Bundesrepublik, die Europäische Union erschüttern, sondern auch den Iran. Der Anschlag beendete fast die Karriere von Innensenator Dieter Heckelmann, CDU. Außenminister Klaus Kinkel, FDP, stand unter Druck. Es dauerte, dann änderten die EU-Regierungen ihren Iran-Kurs. Und auch wenn es erst nicht danach aussah, fühlte sich die Exilopposition langfristig ermutigt. Im Iran fordert heute die militante Kurdenpartei PJAK das Regime heraus, und zwar so, dass die schiitischen Mullahs mit der sunnitischen Regierung der Türkei gemeinsam gegen die Kurden vorgehen wollen.

Nur Stunden nach der Tat übernahm die Bundesanwaltschaft aus Karlsruhe den Fall, zuständig für Terrorismus- und Spionagefälle. Mit Reiseschreibmaschinen rückten Ermittler des Bundeskriminalamtes, des BKA, an. Zuständiger Bundesanwalt war Bruno Jost.

Heute ist er Sonderbeauftragte des Berliner Senats im Fall Anis Amri: Ex-Bundesanwalt Bruno Jost klagte die Mykonos-Mörder an.
Heute ist er Sonderbeauftragte des Berliner Senats im Fall Anis Amri: Ex-Bundesanwalt Bruno Jost klagte die Mykonos-Mörder an.
© Pedersen/dpa

Der frühere Chefermittler, 68 Jahre alt, lebt immer noch bei Karlsruhe. An einem Spätsommerabend 2017 sitzt er, der eigentlich im Ruhestand sein müsste, in einem Restaurant in Berlin-Mitte und isst Spiegelei. Jost kommt gerade aus der Berliner Innenverwaltung, wo er Akten geprüft und Beamte befragt hat. Der Senat ernannte Jost im März 2017 zum Sonderermittler, um den Anschlag am Breitscheidplatz zu untersuchen – auch das war ein islamistisches Massaker.

„Ich landete schon am 18. September 1992 in Berlin“, sagt Jost, der damals nicht ahnte, dass er sich vier Jahre lang mehrere Tage die Woche in Berlin aufhalten würde. „Am Ende war es mein wichtigster Prozess.“ Der Bundesanwalt richtete sein Büro in einem gerade leer gezogenen Haus der US-Armee am Flughafen Tempelhof ein.

Kurz nach dem Attentat meldete sich ein Mann bei der Polizei, der später Iraks Staatspräsident werden sollte. Dschalal Talabani war als irakischer Sozialdemokrat auf Einladung der SPD im Reichstag gewesen. Seine Kämpfer, berichtete Talabani danach Bundesanwalt Jost, hätten an der Grenze iranische Milizionäre festgenommen, und die hätten gestanden, dass Attentate auf Kurden geplant seien.

Eine frühe Spur. Doch wie verlässlich konnte sie sein? Fünf Tage nach den Morden im Mykonos fand ein Passant die Tasche mit den Tatwaffen. Ein Fingerabdruck haftete auf der Pistole, deren Seriennummer in den Iran führte. Dann meldete sich der Bundesnachrichtendienst. Der BND führte unter regimetreuen Iranern eine Quelle, die erfahren haben wollte, dass zwei Libanesen aus Westfalen mit falschen Papieren auszureisen beabsichtigten – die beiden wurden festgenommen. Es waren der Pistolenschütze und die Wache an der Tür. Letzterer gestand den Ermittlern fast alles.

Die Angst bleibt, der Verräter ist noch nicht enttarnt

Phantombilder von zwei Tatverdächtigen. Man begriff schnell, dass zu den Attentätern libanesische Asylbewerber gehörten.
Phantombilder von zwei Tatverdächtigen. Man begriff schnell, dass zu den Attentätern libanesische Asylbewerber gehörten.
© Nowak(2), Polizei, dpa(2), AP, Zeichnungen: Chr. Böer

Davon erfuhr Darabi in Teheran nichts, er fühlte sich so sicher, dass er nach Berlin zurückkehrte. Am 8. Oktober verhaftete ihn das BKA in seiner Zweitwohnung in der Wilhelmstraße, wo Frau und Kinder lebten. Bundesanwalt Jost sagt, man sei zu diesem Zeitpunkt schon von einem Akt des Staatsterrors ausgegangen.

Die Mullahs jagten schon bald nach der Revolution abtrünnige Soldaten, Studenten, Gewerkschafter, die aus dem Iran flohen. Bald lebten 12000 Iraner in Berlin. Und die Mykonos-Morde verfehlten ihre Wirkung nicht. Die Machthaber in Teheran wurden nun auch im Exil wieder gefürchtet. Zumal der Spitzel, der das Treffen verraten hatte, nicht enttarnt war.

Dastmalchi wohnt wie damals in einem Steglitzer Altbau, drei Zimmer, Balkon. „So eine schöne Wohnung“, sagt er, „könnte ich mir heute neu nicht mehr leisten.“ Im Wohnzimmer hängt ein Plakat mit Motiven von Gustav Klimt, auf dem Tisch liegen Bücher, oben auf dem Stapel „Mörderische Identitäten“ des Franko-Libanesen Amon Maalouf. Im Flur zeigen Schwarz-Weiß-Bilder einen freieren Iran: Frauen mit offenem Haar statt Kopftuch, Männer mit Schlips, aus einer Zeit, als Iraner in Kinos, Bars, Clubs gingen.

Er allein würde die Mullahs nicht stürzen, das wusste Dastmalchi, doch wenn alle Kritiker so dächten, glaubte er, bliebe jede Veränderung aus. Er ging in die Offensive, schrieb Bücher, organisierte Proteste, hielt Vorträge. Um Stress abzubauen, begann er zu joggen. Er holt eine Karaffe aus der Küche, schneidet ein paar Gurkenscheiben ins Wasser und erzählt von der Zeit nach dem Attentat. Wie Drohbriefe regimetreuer Iraner ihn erreichten, wie seine Familie der Sicherheit wegen für einige Monate aus der Wohnung in Steglitz auszog. Wie er selbst unabkömmlich war im Flüchtlingsheim, das er für das Rote Kreuz leitete und wie er von dort den Lohn brauchte: „Ich bin jeden Tag um sieben zur Arbeit, ohne Personenschutz.“

Kazem Darabi (rechts) hielt sich als Mitglied der Revolutionsgarden im Hintergrund. Das Lokal stürmten die anderen.
Kazem Darabi (rechts) hielt sich als Mitglied der Revolutionsgarden im Hintergrund. Das Lokal stürmten die anderen.
© Nowak(2), Polizei, dpa(2), AP, Zeichnungen: Chr. Böer

Zu Dastmalchis Leben gehören die konfliktreiche Geschichte des Iran, die ungelöste Kurdenfrage und die Mordkommandos der Mullahs seit jeher. Bundesanwalt Bruno Jost wurde erst während der Ermittlungen zum Experten. Als er im März 1993 die Anklage fertig hatte, wunderte er sich. Jost musste sie dem Bundesjustizministerium vorlegen: „Weder vorher noch nachher habe ich so was wieder erlebt.“ Die Bundesregierung wollte ihre „kritischer Dialog“ genannte Iran-Linie nicht aufgeben. Lange hatte man mit den Mullahs gesprochen, um im Nahen Osten mitreden zu können. Durch deutsche Vermittlung kamen westliche Hisbollah-Geiseln frei. Doch das Justizministerium gab die Anklage frei, obwohl das Attentat darin als iranischer Auftragsmord bezeichnet wurde. Außenminister Kinkel erklärte wie zum Trotz, es fehlten „eindeutige Belege“ für eine Mitwirkung des Mullah-Regimes.

Die Ermittlungen ergaben etwas anderes: Die Morde waren offenbar vom Chef des iranischen Geheimdienstes Ali Fallahian angeordnet worden. Noch eine Woche vor dem Prozess wurde Fallahian im Kanzleramt in Bonn empfangen.

In Berlin hingegen sperrten Beamte bald das Gericht in Moabit ab, auch israelische und amerikanische Einrichtungen rüsteten auf. Bruno Jost bekam Personenschutz. Selbst im Dorf bei Karlsruhe, in dem er mit Familie lebte, postierten sich Sicherheitskräfte.

Im Prozess zeigte sich schnell, dass der Planer des Attentats, Kazem Darabi, iranischer Agent war. Ob als Student, als Betreiber eines Gemüseladens in der Neuköllner Weserstraße, als Mieter zweier Wohnungen und als Kleriker in der Imam-Cafer-Sadik-Moschee – finanziell ging es Darabi stets erstaunlich gut. Regelmäßig hatte er Kontakt mit dem iranischen Konsulat in Dahlem. Iranische Diplomaten unterstützten ihn, nachdem er regimekritische Iraner geschlagen hatte oder die Technische Fachhochschule Berlin ihn wegen Fehlens zu exmatrikulieren drohte. Der britische Geheimdienst stufte Darabi schon in den Achtzigern als „höchst gefährlich“ ein, der BND riet dem Berliner Verfassungsschutz, Darabi zu überwachen. Das Gericht stellte fest: „Er gehörte den Pasdaran an und war für den iranischen Geheimdienst als freier Mitarbeiter tätig.“

Pasdaran werden die Revolutionsgarden genannt, die schnelle Truppe der Mullahs, die auch Verbündete im Ausland anleitet. In Berlin hat Darabi dabei allerdings versagt: Er überschätzte Sorgfalt und Durchhaltewillen seiner Handlanger. Die Waffen an der Straße zurückzulassen, statt sie in die Spree zu werfen, Fingerabdrücke zu verursachen, war schon dilettantisch genug gewesen. Und dann gestand auch noch ein Mittäter.

Warum war Darabi nicht überwacht worden?

Einst Nebenkläger-Anwalt, dann Senator: Wolfgang Wieland von den Grünen.
Einst Nebenkläger-Anwalt, dann Senator: Wolfgang Wieland von den Grünen.
© Rückeis

„Die Mullahs fühlten sich in Deutschland bis dahin gewertschätzt und sicher“, sagt Wolfgang Wieland, der damals als Nebenklageanwalt im Prozess auftrat. „Vielleicht waren die Agenten deshalb so nachlässig gewesen.“ Wieland, heute 69, blickt auf eine lange Karriere bei den Grünen zurück, die ihn auch zum Berliner Justizsenator machte. Seine Mandantin im Mykonos-Prozess war damals die Witwe des Übersetzers, der seinen Landsleuten im Reichstag beigestanden hatte.

In einem Café in Wilmersdorf erzählt Wieland, dass er im September 1992 nicht zum ersten Mal mit der iranischen Opposition zu tun hatte. Als am 2. Juni 1967 bei Anti-Schah-Protesten die Jubelperser auf Demonstranten einschlugen und Benno Ohnesorg erschossen worden war, protestierte auch Student Wieland auf den Straßen der Stadt. „Und nun hatten wir wieder das Gefühl, die iranischen Herrscher jagen in Berlin ihre Kritiker.“ Wieland saß zu dieser Zeit auch im Abgeordnetenhaus, seine Partei setzte einen Untersuchungsausschuss durch. „Uns wunderte: Wieso war Darabi nicht überwacht worden?“

Im Prozess trat der ehemalige Staatschef des Iran, Abdolhassan Banisadr, als Zeuge auf.
Im Prozess trat der ehemalige Staatschef des Iran, Abdolhassan Banisadr, als Zeuge auf.
© Nowak(2), Polizei, dpa(2), AP, Zeichnungen: Chr. Böer

Sinngemäß erklärte Innensenator Dieter Heckelmann, CDU, im Ausschuss: Konkrete Anschlagshinweise hätten ebenso gefehlt wie Farsi-Übersetzer. Islamistische Fanatiker waren in Berlin etwas Neues, so richtig konnten die Abgeordneten dem Innensenator schwere Versäumnisse nicht nachweisen. Dennoch wurde Heckelmann 1994 die Zuständigkeit für den Verfassungsschutz entzogen, die Behörde der Senatskanzlei unterstellt.

In jenen Wochen erwirkte Bruno Jost einen Haftbefehl, Irans Geheimdienstchef Fallahian wurde zur Fahndung ausgeschrieben. Zur steigenden Nervosität in Teheran trug bei, dass vor Gericht ein Kronzeuge aus Paris, Irans früherer Präsident Abdolhassan Banisadr, auftrat, um über die Kommandostrukturen der Geheimdienste zu berichten. Zeuge Banisadr drängte auch einen Überläufer zu einer Aussage. Bevor der aus dem Iran geflohene Ex-Agent das Gericht betrat, wurde die Presse ausgeschlossen. Richter Frithjof Kubsch verhängte ein Schweigegebot – Staatsanwälte, Angeklagte, Verteidiger, Wachleute, Stenografen durften mit niemandem über den „Zeuge C“ genannten Mann reden. Der schilderte, wie die Mullahs glaubten, dass funktionieren würde, was 1989 in Wien geklappt hatte: die Kurden zu liquidieren und die Mörder außer Landes zu schaffen. Deshalb seien die Exilanten nicht in Paris, sondern in Berlin getötet worden.

Für jeden Einsatz gelte ein Codewort, sagte Zeuge C, das an Vorgesetzte gemeldet und von ihnen bestätigt werde. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte im September 1992 Irans Botschaft in Bonn überwacht und den Funkspruch „Bozorg Allawi“ abgefangen. Zeuge C erklärte, er habe von dem Codewort noch im Iran erfahren, es habe „Faryad Bozorg Alavi“ lauten müssen: auf Verlangen des schiitischen Führers.

Der Kopf des Attentats - Kazem Darabi. Er saß 15 Jahre in Haft, seitdem soll er im Libanon leben.
Der Kopf des Attentats - Kazem Darabi. Er saß 15 Jahre in Haft, seitdem soll er im Libanon leben.
© Nowak(2), Polizei, dpa(2), AP, Zeichnungen: Chr. Böer

Nach 247 Verhandlungstagen und 166 Zeugen, nachdem alles ins Arabische, manchmal in Farsi übersetzt wurde, fällte das Kammergericht im April 1997 sein Urteil: lebenslänglich für Darabi und den Fangschuss-Schützen, wegen besonderer Schwere der Schuld verhängten die Richter dabei 23 Jahre Mindesthaft. Zwei Libanesen erhielten wegen Beihilfe zum Mord mehrjährige Haftstrafen, ein Mann aus dem Umfeld der Clique wurde freigesprochen. Es sei offenkundig, sagte Richter Kubsch, dass die iranischen Machthaber die Morde beauftragten.

„Wir jubelten“, sagt Parviz Dastmalchi, der erst als Zeuge, dann als Zuhörer im Prozess war. „Damit hatten wir nie gerechnet.“ Nach der Verkündung tauchen die Richter unter. Die 397 Seiten Urteilsbegründung schrieben sie von Personenschützern abgeschirmt in einem Hotel. Auf Irans Straßen brüllten 100.000 Eiferer, Imame sprachen Todesbanne aus. Der Vizechef des Teheraner Parlaments sagte: „Wir müssen sämtliche Investitionen und Verträge mit Deutschland aufkündigen.“ Heute ist dieser Mann, Hassan Ruhani, iranischer Staatschef. Mit dem Urteil zogen die EU-Staaten ihre Botschafter aus Teheran ab. Die Gesandten kehrten zwar nach 18 Tagen zurück, doch auch diese Schamfrist schmälerte die Wirkung des Schuldspruchs nicht. Der Iran wurde isoliert, im Jahr 1997 exportierte Deutschland nur Waren im Wert von umgerechnet einer Milliarde Euro dorthin.

„Die Mordserie an Exiliranern in Europa stoppte“, sagt Wieland. „Manchmal muss Katastrophales passieren, damit gehandelt wird.“

Im April 1997 wird im Mykonos-Prozess das Urteil gesprochen. Ein SEK-Beamter bewacht das Gericht.
Im April 1997 wird im Mykonos-Prozess das Urteil gesprochen. Ein SEK-Beamter bewacht das Gericht.
© Nowak(2), Polizei, dpa(2), AP, Zeichnungen: Chr. Böer

Die Mullahs rächten sich. Ein deutscher Geschäftsmann wurde 1998 im Iran wegen „unsittlicher Beziehung“ zu einer Muslimin zum Tode verurteilt. Diplomaten glaubten, dass die Mykonos-Attentäter auf diese Weise freigepresst werden sollten. Die Bundesregierung blieb hart, nach zwei Jahren kam die Geisel frei. Darabi wurde 2003 von Berlin nach Dresden verlegt. Ein Schmuggel-Handy war in seiner Zelle gefunden worden und man fürchtete, der Agent könnte aus dem Tegeler Gefängnis wieder Getreue steuern.

In der Prager Straße, dort wo sich nun die Kita befindet, steht seit 2004 eine Gedenktafel. Nach den Namen der Opfer heißt es auf der Tafel: „ermordet durch die damaligen Machthaber im Iran“ – worauf der frühere Bürgermeister Teherans und spätere Präsident Irans, Mahmud Ahmadinedschad, seinem Berliner Amtskollegen Klaus Wowereit, SPD, einen Beschwerdebrief schrieb.

So setzen sich die Kämpfe bis in die Gegenwart fort. Manche haben an Schärfe sogar zugenommen – wie die Versuche des Iran, des Irak, der Türkei und Syriens zeigen, das neue Selbstbewusstsein der Kurden zu erschüttern.

Der Chefplaner des Attentats, Kazem Darabi, lebt heute mit seiner libanesischen Frau offenbar im Libanon. Dort gab er zuletzt Fernsehinterviews wie ein Popstar. Obwohl das Gericht eine Mindestdauer von 23 Jahren Haft festgelegt hatte, wurde Darabi nach 15 Jahren Haft abgeschoben, wie es bei ausländischen Häftlingen üblich ist.

Die Imam-Cafer-Sadik-Moschee, berichten Ermittler, sei immer noch ein Treffpunkt radikaler Muslime. Zuletzt fiel die Moschee 2016 auf: Ein Imam verweigerte an der Schule seines Sohnes einer Lehrerin den Handschlag.

Der Iran ist heute vorsichtiger. Im März 2017 verurteilte das Kammergericht dennoch einen Pakistaner zu vier Jahren und drei Monaten Haft: demnach hatte er Reinhold Robbe für Irans Geheimdienst ausspioniert. Der SPD-Politiker war Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Ein Verfassungsschützer sagte vor Gericht, Robbe könnte für den Fall, dass Israel den Iran angreift, ein Vergeltungsziel gewesen sein. Irans Botschafter, der heute in Dahlem residiert, ist für ein Gespräch nicht zu erreichen.

Parviz Dastmalchi macht weiter. Er fliegt oft nach London, tritt dort im Exilfernsehen auf. Das Regime, sagt er, könne die Widersprüche im Iran kaum noch kaschieren, wahrscheinlich komme es zu neuen Aufständen. „Hoffentlich“, sagt Dastmalchi, „läuft es anders als in Syrien.“

An diesem Spätsommertag will er an die Gefahren nicht denken, die mit einem Sturz des Regimes verbunden wären. Dastmalchi geht joggen: „Ich kenne einen schönen Weg mit viel Grün“, sagt er.

Die Strecke bleibt geheim.

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