Die Türkei und der Völkermord an den Armeniern: Bundesregierung fürchtet Blamage
War es ein Völkermord? Noch scheut sich die Bundesregierung, die Massaker an den Armeniern so zu nennen. Doch die große Koalition gerät immer mehr in Bedrängnis. Die Suche nach einer gesichtswahrenden Lösung hat begonnen.
Im Streit um die Bezeichnung der Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren als "Völkermord" zeigt der politische Druck auf das Auswärtige Amt nun offenbar Wirkung. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) äußerte sich am Freitag erstmals öffentlich zu der Debatte.
Er wies darauf hin, dass die Bemühungen um eine Erklärung des Bundestags zum Thema noch nicht abgeschlossen seien – ein Hinweis darauf, dass er mit Gegenwind aus dem Bundestag rechnet. Das Parlament will am kommenden Freitag zum 100. Jahrestag des Beginns des Massakers einen Antrag debattieren, der die Massenmorde bislang nicht als Genozid wertet.
Das Auswärtige Amt (AA) und die Spitzen der Koalitionsfraktionen fürchten, dass eine Einstufung der Vernichtung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern als Völkermord Konflikte mit der Türkei provoziert. Erinnerungskultur lasse sich nicht von außen verordnen, sondern müsse aus der türkischen und armenischen Gesellschaft heraus entwickelt werden, lautet die Begründung. Abgeordnete der Koalitionsfraktionen sowie der Opposition fordern dagegen, den Genozid im Bundestag auch beim Namen zu nennen.
"Die Gräuel der Vergangenheit lassen sich nicht auf einen Begriff oder den Streit um einen Begriff reduzieren", sagte Steinmeier bei einem Besuch in Estlands Hauptstadt Tallinn. Der Außenminister sprach nicht von Völkermord, sondern von "Massakern" und "Gräueln am armenischen Volk". Es gehe um einen "wirklich schwierigen und schrecklichen Teil der Geschichte", meinte er. "Für mich ist entscheidend, dass wir eine angemessene Sprache dafür finden."
Außenpolitische Bedenken
Wie Steinmeier wies auch ein AA-Sprecher in Berlin darauf hin, dass sich das Ergebnis der Beratung über den Armenien-Antrag nicht vorhersagen lasse. In der Koalition wird nun nach einer Lösung gesucht, die den Kritikern entgegenkommt, den außenpolitischen Bedenken Rechnung trägt und das Ansehen des Außenministers nicht beschädigt.
Letzteres wäre der Fall, wenn der Bundestag ohne vorherige Verständigung mit dem Außenminister sich auf eine Position festlegen würde, die der der Bundesregierung widerspricht. Regierungssprecher Steffen Seibert betonte am Freitag, dass sich die Position der Kanzlerin nicht von der des Außenministers unterscheide.
Der Entwurf der Koalitionsfraktionen für die Gedenkstunde verurteilt die "planmäßige Vertreibung und Vernichtung" der Armenier im Auftrag der damaligen jungtürkischen Regierung und bedauert die "unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches" bei diesem Verbrechen. Der Papst und 20 Länder haben das Geschehen dagegen als Genozid bezeichnet, was in Ankara teilweise zu heftigen Reaktionen führte. Die Türkei als Rechtsnachfolgerin des osmanischen Reichs lehnt es ab, von Völkermord zu sprechen.
Am Freitag schlossen sich weitere Vertreter der Koalitionsparteien der Forderung nach einer Einstufung als Völkermord an. "Dies sollte im Zusammenhang der UN-Völkermordkonvention von 1948 geschehen, die eine Wiederholung von Genoziden verhindern soll", sagte der CDU-Europaparlamentarier Elmar Brok dem Tagesspiegel. Ähnlich äußerten sich die SPD-Bundestagsabgeordneten Josip Juratovic und Martin Rabanus. "Meiden wir den Begriff ,Genozid’, so leugnen wir die Schwere dieses Verbrechens und lassen die Ermordeten ein zweites Mal sterben", erklärte Juratovic.
Appell deutscher Wissenschaftler
Auch von anderer Seite wird der Bundestag aufgefordert, die Vernichtung der Armenier als Genozid anzuerkennen: Vergeben Sie die historische Chance nicht, den Opfern, den Überlebenden und den Nachfahren des Völkermords Gerechtigkeit widerfahren zu lassen", heißt es in einem Brief an die Abgeordneten, den bislang fast 150 deutsche Wissenschaftler unterschrieben haben.
Als Folge der Angriffe auf die Armenier seien schätzungsweise 1,5 Millionen Männer, Frauen und Kinder in der nordsyrischen Wüste gestorben, schreiben die Wissenschaftler. Das Erinnern an die Opfer des Völkermordes bedürfe in besonderer Weise der öffentlichen Anerkennung. "Diese Anerkennung muss auch die eindeutige Benennung des Geschehens einschließen." Unterzeichnet haben den Appell auch die Historiker Jürgen Osterhammel und Norbert Frei, der Politologe Elmar Altvater, der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik und Altbischof Wolfgang Huber.
"Politik der Leugnung"
Nach Ansicht der Forscher ist die Benennung der jungtürkischen Politik "als systematische, intentional geplante und durchgeführte, somit genozidale Vernichtungspolitik der einzige Weg", der Erinnerung den notwendigen Raum zu geben. Ein Ausweichen vor dem Begriff, so warnen sie, wäre ein Zugeständnis an die offizielle Position der Regierung in Ankara: "Es wäre eine Einwilligung in die Politik der Leugnung." mit dpa