Rechnungshof legt eindringliche Analyse vor: „Bundesfinanzen sind in einem kritischen Zustand“
Die Haushaltskontrolleure schlagen Alarm: Der Etat 2022 ist verfassungsrechtlich problematisch, die Finanzierungslücken bis 2025 sind zu hoch.
Der Bundesrechnungshof schlägt Alarm – mitten hinein in die kritische Phase der Ampel-Koalitionsgespräche. Nach Ansicht der Haushaltskontrolleure, die im Auftrag des Bundestages arbeiten, sind die Bundesfinanzen „in einem kritischen Zustand“. Vor allem in der Finanzplanung bis 2025 zeige sich eine „unzureichende finanzielle Vorsorge“, es gebe „erhebliche Finanzlücken“.
Auch am bisherigen Etatentwurf für 2022, den SPD, Grüne und FDP nach einer Regierungsbildung in Eilgeschwindigkeit auf den Gesetzesweg bringen müssen, übt der Rechnungshof Kritik: Seiner Ansicht nach ist die bisher von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) eingestellte Neuverschuldung im Rahmen der Notlagenklausel der Schuldenbremse zu hoch und möglicherweise verfassungswidrig.
Rechnungshof-Präsident Kay Scheller forderte die Ampel-Koalitionäre auf, sich auf einen „soliden Bundeshaushalt“ zu verständigen. „Notwendig sind jetzt eine ehrliche Bestandsaufnahme, wirksame Strukturreformen und eine entschlossene Prioritätensetzung. Denn es ist nicht Geld für alles da“, sagte Scheller.
Er plädierte dafür, die Schuldenbremse nicht anzutasten. „Denn sie zwingt die Politik, zu priorisieren, alle Kräfte und Mittel dort zu bündeln, wo sie am dringendsten gebraucht werden.“ Der Rechnungshof legt jährlich im November seine Analyse zur Lage der Bundesfinanzen vor, üblicherweise im Zusammenhang mit den abschließenden Etatberatungen im Bundestag, die nun aber – wie in jedem Wahljahr – bis nach der Koalitionsbildung verschoben sind.
Appell an die Ampel
Der Rechnungshof schlägt vor, dass die nächste Bundesregierung ihre Politik stärker auf einige Probleme konzentriert:
- Wichtige Zukunftsfelder wie Klimaschutz, Energiewende, Digitalisierung, Infrastruktur sollten in den Mittelpunkt gestellt werden. Dazu käme der Bereich Bildung und Forschung sowie die „zentralen Bundesaufgaben“ in der Sicherheits- und Außenpolitik.
- Die Koalition müsse eine „mutige Aufgabenkritik“ vornehmen, um sich auf das konzentrieren zu können, was nach der Verfassung die Kernaufgaben des Bundes seien. Die Bund-Länder-Finanzbeziehungen sollten dafür entflochten werden, will heißen: Der Bund solle weniger ein Aufgaben investieren, die eigentlich Sache der Länder sind.
- Sozialausgaben sollten zielgenauer ausgerichtet werden, damit sie vor allem wirklich Bedürftigen und Schwachen zugutekämen und nicht breit gestreut würden. Das träfe, ohne dass der Rechnungshof es explizit nennt, etwa die Mütterrente.
- Die Haushaltskontrolleure schlagen vor, ein Ausgabenmoratorium zu beschließen: Für jede neue Maßnahme solle die Gegenfinanzierung auch durch das Beenden anderer Maßnahmen sichergestellt werden.
- Zusätzliche Steuereinnahmen sollen durch eine verstärkte Bekämpfung von Steuerbetrug generiert werden – ein Ziel, das im Sondierungspapier der Ampel-Parteien schon verankert ist.
- Steuerliche Subventionen und Vergünstigungen mit „fehlender oder unzureichender wirtschaftlicher Wirkung oder klimaschädlichen Effekten“ sollten überprüft werden – auch das will sich die Ampel vornehmen.
Verschuldung 2022 zu hoch
Dass der Bund im kommenden Jahr tatsächlich noch einmal fast 100 Milliarden Euro an neuen Krediten braucht, um direkte Corona-Folgen bekämpfen zu können, zweifelt der Rechnungshof an. 2020 mussten die Kreditermächtigungen bei Weitem nicht genutzt werden, auch im laufenden Jahr zeichnet sich das ab.
Die bisher geplante Nettokreditaufnahme von genau 99,7 Milliarden Euro ist laut Rechnungshof „verfassungsrechtlich äußerst zweifelhaft“. Er nennt dafür auch die absehbare deutliche wirtschaftliche Erholung im kommenden Jahr als Grund.
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Der Rechnungshof empfiehlt, die neue Regierung solle einen „rechtlich unangreifbaren und mit der Schuldenregel vereinbaren Haushalt 2022 auf den Weg bringen“. Im Hintergrund spielte in den Koalitionsgesprächen allerdings der Vorschlag eine Rolle, diese Kreditermächtigung von 100 Milliarden Euro zu nutzen, um eine Rücklage aufzubauen für folgende Haushaltsjahre.
Aktuell wird der Vorschlag, den einige prominente Ökonomen ins Spiel brachten, auch von dem Öko-Thinktank Agora unterstützt – mit dem Ziel, aus der Rücklage den Abbau der EEG-Umlage zu finanzieren. Diese Umlage will nicht zuletzt die FDP beenden. Eine kreditfinanzierte Rücklage hat Parteichef Christian Lindner jedoch abgelehnt.
Schuldenbremse soll bleiben
Die Forderung, an der Schuldenbremse festzuhalten, und seine traditionelle Skepsis gegenüber Umgehungsstrategien wie Nebenhaushalten oder staatlichen Investitionsgesellschaften mit eigenen Verschuldungsmöglichkeiten begründet der Bundesrechnungshof auch mit einem Verweis auf die Europäische Zentralbank: Niedrige öffentliche Schuldenstände erleichterten der EZB „angemessene Zinsentscheidungen zur Bekämpfung inflationärer Tendenzen“.
Eine höhere Neuverschuldung lässt sich nach Ansicht des Rechnungshofes auch nicht mehr mit den aktuell noch niedrigen Zinsen rechtfertigen.
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Harsch ist die Kritik an der Finanzplanung, die Scholz Mitte des Jahres vorgelegt hat. Laut Rechnungshof addieren sich die „strukturellen Finanzierungslücken“ bis 205 auf gut 78 Milliarden Euro. Der Finanzminister hat die Haushaltsdeckung nach 2022 bisher vor allem über das Auflösen jener Rücklage in Höhe von gut 48 Milliarden Euro bewerkstelligt, die die großen Koalitionen seit 2013 aus den Überschüssen im Bundesetat angelegt hatten.
Der Rechnungshof hält es für besser, mit dieser Rücklage den Etat schon 2022 auszugleichen, um so die Neuverschuldung geringer zu halten. Ein Grund: Die neuen Kredite des Jahres 2022 müssen in nahezu voller Höhe nach 2026 zwingend getilgt werden, was künftige Etats zusätzlich belastet. Üblicherweise tilgt der Bund seien Schulden nicht, sondern löst sie durch neue Kredite ab.