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Das Plakat einer Teilnehmerin einer Demonstration gegen eine geplante Abschiebung.
© Susann Prautsch/dpa
Update

Nach Bombenanschlag in Kabul: Bund und Länder setzen Abschiebungen nach Afghanistan aus

Bis auf weiteres gilt ein Abschiebestopp nach Afghanistan. In Nürnberg setzten sich Schüler für einen 20-Jährigen ein. Der Afghane wurde aus der Abschiebehaft entlassen, doch die Behörden legten nun Beschwerde ein.

Nach dem schweren Terroranschlag in Kabul sollen Abschiebungen nach Afghanistan vorerst nur noch in Ausnahmefällen erfolgen. Das teilte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Donnerstag nach einem Treffen mit den Ministerpräsidenten der Länder mit. Zuerst hatte die Süddeutsche Zeitung über den Abschiebe-Stopp berichtet. Das Auswärtige Amt soll nun möglichst bis Juli eine neue Beurteilung der Sicherheitslage vorlegen. Darauf hatten sich zuvor Außenminister Gabriel und Innenminister de Maizière geeinigt, wie die SZ berichtete. Diese Beurteilungen dienen Behörden und Gerichten als Grundlage für Entscheidungen über Asylanträge von Bürgern der jeweiligen Staaten.

Hintergrund des Abschiebe-Stopps ist der verheerende Bombenanschlag in direkter Nähe der deutschen Botschaft in Kabul am gestrigen Mittwoch. Danach hatte die Debatte um einen Stopp sämtlicher Abschiebungen nach Afghanistan wieder an Fahrt gewonnen. Politiker von SPD und Grünen sowie Menschenrechtsgruppen hatten verlangt, keine Afghanen mehr in ihr Heimatland zurückzuschicken.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte daraufhin zunächst Einzelfallprüfungen für die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber nach Afghanistan angekündigt. Der Anschlag vom Mittwoch sei Anlass, "noch einmal genau hinzuschauen, die Sicherheitslage immer wieder richtig zu analysieren", sagte Merkel am Donnerstag in Berlin. "Ich sage auch Provinz für Provinz, das macht das Bundesaußenministerium auch." Zudem solle man sich auf die Flüchtlinge aus Afghanistan konzentrieren, die kriminelle Taten in Deutschland begangen hätten, und sich jeden Einzelfall genau anschauen, sagte sie. "Das ist für mich die Lehre aus dem gestrigen Tag." Die SPD hat ein Moratorium bei der Abschiebung gefordert.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat eine Aussetzung der Abschiebungen nach Afghanistan gefordert. Schulz sprach sich am Donnerstag in Berlin für einen vorübergehenden Abschiebestopp aus, bis eine neue Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes zur Sicherheitslage am Hindukusch vorliege. Dies sollte aber nicht für Kriminelle und Gefährder gelten.

Proteste in Nürnberg

In Nürnberg kam es am Mittwoch zu Tumulten, als rund 300 Menschen versuchten, die Abschiebung eines 20-jährigen Afghanen zu verhindern. Neun Polizisten wurden verletzt, fünf Menschen vorübergehend festgenommen. Die Schüler hatten mit einer Sitzblockade versucht, den Abtransport des Schülers aufzuhalten. Die Polizei sagt, Einsatzkräfte seien mit Flaschen und einem Fahrrad beworfen worden. Auf Videos ist zu sehen, wie Beamte mit Schlagstöcken und Hunden gegen die Schüler vorgehen.

Am Donnerstag entschied das Amtsgericht in Nürnberg dann gegen eine Abschiebehaft für den 20-Jährigen. Das Gericht lehnte die von der Zentralen Ausländerbehörde der Regierung von Mittelfranken beantragte Abschiebehaft ab. Das Gericht sehe dafür keinen Anlass, sagte der Anwalt des jungen Mannes. Der Berufsschüler, dessen Abschiebeversuch am Mittwoch zunächst zu Protesten von Klassenkameraden und schließlich zu Tumulten geführt hatte, verließ am Mittag freudestrahlend das Gericht. Vor dem Gebäude empfingen ihn 25 Schulkollegen und sein Klassenlehrer.

Nach dem Willen der Bezirksregierung von Mittelfranken soll der Mann wieder in Abschiebehaft genommen werden. Eine Sprecherin der Bezirksregierung teilte am Freitag auf AFP-Anfrage mit, dass Beschwerde gegen die am Donnerstag erfolgte Haftentlassung des jungen Mannes eingelegt worden sei. Die Bezirksregierung war am Donnerstag mit dem Antrag gescheitert, den Berufsschüler vom 1. bis 30. Juni in Abschiebehaft zu nehmen. Gegen diese Entscheidung des Nürnberger Amtsgerichts legte die Regierung nun aber Beschwerde ein.

Wie die Polizei am Donnerstag mitteilte, drohte der junge Afghane bei dem umstrittenen Polizeieinsatz mit Rache. Als Polizisten ihn von einem von Demonstranten umstellten Streifenwagen in ein in der Nähe stehendes Polizeifahrzeug bringen wollten, habe er wütend gerufen: "Ich bin in einem Monat wieder da. Und dann bringe ich Deutsche um", sagte der Nürnberger Polizeidirektor Hermann Guth am Donnerstag. Gegen den Einsatz der Beamten habe sich der 20-Jährige aggressiv zur Wehr gesetzt.

Die Polizei geht am Mittwoch in Nürnberg mit Schlagstöcken und einem Hund gegen Schüler vor.
Die Polizei geht am Mittwoch in Nürnberg mit Schlagstöcken und einem Hund gegen Schüler vor.
© Michael Matejka/ARC/dpa

Wegen des Anschlags mit mindestens 90 Toten und Hunderten Verletzten verschob die Bundesregierung einen für Mittwoch geplanten Abschiebeflug nach Afghanistan. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) will aber weiter abgelehnte Asylbewerber zurückschicken. Er sagte, angesichts des Anschlags hätten die Mitarbeiter der Botschaft in Kabul derzeit Wichtigeres zu tun als sich mit Abschiebungen zu beschäftigen. „Deshalb habe ich entschieden, diesen Flug abzusagen. Er wird aber bald möglichst nachgeholt.“ Unionsfraktionsvize Stephan Harbarth sagte der „Rheinischen Post“ (Donnerstag): „Es gibt Provinzen und Distrikte, in denen die Lage vergleichsweise sicher und stabil ist.“

Malu Dreyer hält Abschiebungen für nicht zu verantworten

Auch SPD-Innenexperte Burkhard Lischka sprach von „relativ sicheren“ Gegenden in Afghanistan. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, Abschiebungen nach Afghanistan seien „immer noch zumutbar“. Zweifel daran äußerte Bremens Bürgermeister Carsten Sieling (SPD). „Der grausame Anschlag in Kabul macht es aus meiner Sicht zwingend, dass die Bundesregierung ihre Sicherheitseinschätzung überprüft“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Donnerstag).

Ähnlich äußerte sich Bundesratspräsidentin Malu Dreyer (SPD). Rainer Arnold, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, sprach sich für einen zumindest zeitweisen Abschiebestopp aus. „Im Augenblick sind Abschiebungen nach Afghanistan nicht zu verantworten. In diesem Land können die Menschen nirgendwo sicher leben“, sagte er der „Passauer Neuen Presse“ (Donnerstag). Der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour warf der Bundesregierung Schönfärberei vor. „Der schlimmste Anschlag seit dem Fall der Taliban zeigt die Dramatik der Sicherheitslage in Afghanistan“, sagte er der „Heilbronner Stimme“ (Donnerstag). „Es ist nur noch zynisch, wenn die Bundesregierung ihre für Abschiebungen geschönte Einschätzung der Sicherheitslage nicht endlich korrigiert.“

Todesopfern auch rund 460 Verletzte

Pro Asyl forderte einen kompletten Stopp von Abschiebungen nach Afghanistan und eine Freilassung möglicher Abschiebehäftlinge aus dem Land. Unklar war, ob der Anschlag der deutschen Botschaft galt. „Im Moment haben wir dazu noch kein vollständiges Lagebild“, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes. In dem Viertel liegen in unmittelbarer Nähe noch andere Botschaften, der Präsidentenpalast, das Nato-Hauptquartier und viele afghanische Ministerien. Bei dem massiven Anschlag mit einer Lastwagenbombe gab es nach Angaben des afghanischen Gesundheitsministeriums neben den vielen Todesopfern auch rund 460 Verletzte. Laut einer Sprecherin des Auswärtigen Amtes wurden eine deutsche Diplomatin leicht und eine afghanische Mitarbeiterin der Botschaft schwer verletzt. Ein afghanischer Wächter wurde getötet. Das Hauptgebäude der Botschaft wurde massiv beschädigt. Unklar war zunächst, wer hinter der Tat steckt.

Die radikalislamischen Taliban ließen verlauten, sie seien es nicht gewesen. Ähnliche Anschläge hatte zuletzt die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) für sich reklamiert. Aber auch auf den üblichen IS-Kanälen gab es kein Bekenntnis. Die Bombe war am Mittwochmorgen gegen 8.30 Uhr (Ortszeit) an einer vielbefahrenen, engen Straße explodiert. Viele Menschen waren dort gerade auf dem Weg zur Arbeit. Innenministeriums-Sprecher Nadschib Danisch sagte, die Attentäter hätten den Sprengstoff in einem Tanklastwagen versteckt. Die Wucht der Explosion habe mindestens 50 Fahrzeuge zerstört. Bilder zeigten ausgebrannte Autowracks, versengte Bäume, mit Geröll übersäten Asphalt und einen mehrere Meter tiefen Krater nahe der deutschen Botschaft. (AFP, dpa, rtr)

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