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Mächtigen Ärger gibt es um die Corona-Soforthilfen.
© dpa/Robert Michael

Zu lasche Vergabepraxis bei Soforthilfen: Bund fürchtet großen Corona-Betrug in Berlin

Ein Brandbrief des Bundeswirtschaftsministeriums an den Senat droht mit hohen Rückforderungen: Die Zahl der Antragsteller sei nicht plausibel.

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Die Bundesregierung befürchtet einen massenhaften Betrug bei den Corona-Soforthilfen wegen einer zu laschen Vergabepraxis durch das Land Berlin.

In einem in seiner Deutlichkeit bemerkenswerten Brief droht Bundeswirtschaftsstaatsekretär Ulrich Nußbaum der Berliner Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) mit „signifikanten Rückforderungsansprüchen des Bundes“ und verlangt bis zum 10. Juni Antworten.

Dabei geht es um die Corona-Hilfen von einmalig 9000 bis maximal 15.000 Euro für Selbstständige und Kleinstunternehmen mit bis zu zehn Mitarbeitern.

Das Schreiben ging auch an Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) und liegt dem Tagesspiegel vor. Der frühere Berliner Finanzsenator Nußbaum betont, dass nach Meldung der Investitionsbank Berlin (IBB) bereits gut 209.000 Anträge bewilligt worden seien.

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„Bei Konzipierung des Programms wurde die Anzahl der potenziell Berechtigten durch mein Haus anhand der vorliegenden Statistiken aus dem Unternehmensregister für das Berichtsjahr 2018 geschätzt“, betont Nußbaum.

Erhebliche Unstimmigkeiten

„Danach gab es in Berlin rund 170.000 Unternehmen in der entsprechenden Größenklasse“, sieht er erhebliche Unstimmigkeiten. Unter dem Strich wären das 40.000 Anträge mehr, als es überhaupt mögliche Antragsteller gäbe.

„Ich bitte Sie daher zu prüfen, ob und in welcher Höhe ggf. Bundesmittel an Nichtberechtigte, etwa Vereine, die nicht wirtschaftlich und dauerhaft am Markt tätig sind, geflossen sind“, fordert Nußbaum. Zudem moniert er, dass bei Anträgen auch Kosten der privaten Lebensführung berücksichtigt worden seien, die nicht Teil der Betriebsausgaben seien.

Ergänzend weist er auf die Warnung des Landeskriminalamts Berlin vom 8. April hin, wonach die IBB „bei Antragstellung weder die Identität des Antragstellers, noch ob der zum anspruchsberechtigten Personenkreis gehört, noch ob er von der Coronakrise überhaupt wirtschaftlich betroffen sei, prüfe“.

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„Zudem hat Berlin meines Wissens in der ersten Auszahlungsphase auch Personalkosten bei der Ermittlung des Liquiditätsengpasses berücksichtigt, was aber durch die Vollzugshinweise ebenfalls nicht abgedeckt ist“.

In Regierungskreisen wurde am Wochenende betont: „Das in Berlin ist eine Katastrophe.“ Es gehe hier um das Geld der Steuerzahler, man sei gegenüber dem Bundesfinanzministerium und dem Bundesrechnungshof rechenschaftspflichtig. Andere Bundesländer wie Nordrhein- Westfalen hätten bei Betrügereien die Gelder schon erfolgreich zurückgeholt.

Nach Angaben des Bundesfinanzministeriums wurden im Rahmen der Soforthilfen für Selbstständige und kleine Unternehmen bisher bundesweit 12,6 Milliarden Euro bewilligt. Die vereinbarten Hilfsmaßnahmen, Kredite und Garantien, die eine Pleitewelle und einen rasanten Arbeitslosenanstieg verhindern sollen, belaufen sich auf knapp 1,3 Billionen Euro – haushaltswirksam sind für 2020 davon rund 430 Milliarden Euro.

Von dem ersten Nachtragshaushalt in Höhe von 156 Milliarden Euro an neuen Schulden im Bund sind rund 65 Milliarden Euro noch nicht verbraucht, diese Summe könnte zur Finanzierung des zusätzlich geplanten Konjunkturpakets mitverwendet werden.

Nachtragshaushalt

Dennoch wird ein weiterer Nachtragshaushalt von rund 30 Milliarden notwendig sein. Das Bundeskabinett von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) könnte die von Juli bis Ende Dezember befristete Mehrwertsteuersenkung am 12. Juni beschließen, nach dem Bundestag soll der Bundesrat das Paket dann in einer Sondersitzung am 26. Juni billigen.

Allerdings wird das gesamte Konjunkturpaket nach einer dem Tagesspiegel vorliegenden Aufstellung der Landesfinanzminister am Ende mindestens 167 Milliarden Euro statt wie bisher angegeben 130 Milliarden Euro kosten. Noch ist auch unklar, ob Handel, Geschäfte und Gastronomie die Mehrwertsteuersenkung weitergeben oder zur Abfederung der eigenen Umsatzeinbrüche für sich selbst beanspruchen.

Zudem wird kritisiert, dass für Kulturschaffende und andere Gruppen keine effektiven Hilfen im Paket enthalten sind. Deshalb fordert der Bundesrat auf Initiative von Berlin und Bremen die Bundesregierung zu weiteren Hilfen für Selbstständige, Freiberufler und den Kunst-, Kultur-, Medien- und Kreativbereich auf: „Zur Deckung der Kosten ihres Lebensunterhalts werden Selbstständige auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) verwiesen.

Das schafft unnötige Bürokratie und ist nicht sachgerecht“, schreibt dazu der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Linke). Der Bundesrat fordert für die Betroffenen einen pauschalen monatlichen Zuschuss, mit dem Einnahmeverluste abgefedert werden können.

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