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Ungarns Regierungschef Orban und seine polnische Amtskollegin Szydlo am Donnerstag in Warschau.
© imago

Die Osteuropäer nach dem Brexit: Brüssel im Visier

Nach dem Brexit wollen die Osteuropäer wieder Macht von Brüssel auf die nationalstaatliche Ebene zurückholen. Es ist eine der vielen Turbo-Entwicklungen, die sich in diesen Tagen abspielen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Albrecht Meier

Von Lenin stammt der Ausspruch, es gebe Dekaden, in denen nichts passiert. Und dann gibt es dem Lenin-Bonmot zufolge wieder Wochen, in denen sich ganze Dekaden abspielen. Diese Tage fallen in die letzte Kategorie.

Es ist selten, dass sich Geschichte derart verdichtet, wie es derzeit der Fall ist: Der Brexit, die zahlreichen aufbrechenden Konflikte in der amerikanischen Gesellschaft, die Terrorangst in Frankreich und Deutschland und jetzt auch noch der autoritäre Gegen-Putsch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Als normaler Nachrichtenkonsument hat man es gelegentlich schwer, den Überblick zu behalten.

Orban bekräftigt seine Ablehnung einer Flüchtlings-Verteilung

In die Kategorie der großen Beschleunigungen, die in diesen Tagen ablaufen, gehört auch – etwas unterhalb der ganz großen Schlagzeilen – ein Treffen, das am Donnerstag in Warschau stattfand. Dort versammelten sich die Regierungschefs der Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Ungarn und Slowakei, um über die Folgen des Brexit-Votums in Großbritannien zu reden.

Die vier Staaten stehen bekanntlich einer Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Staaten, wie sie die EU-Kommission und Kanzlerin Angela Merkel gefordert haben, ablehnend gegenüber. Diese ablehnende Haltung, die Ungarns Regierungschef Viktor Orban auch am Donnerstag in Warschau noch einmal zum Ausdruck brachte, wäre nicht weiter tragisch, wenn sich ein neuerlicher Anstieg der Flüchtlingszahlen in der EU und damit auch eine Neuauflage des Streits um die Verteilung der Migranten ausschließen ließe. Doch das ist nicht der Fall: Flüchtlinge aus Westafrika und vom Horn von Afrika nutzen in diesem Jahr verstärkt die Route von Libyen nach Italien. Die Frage einer gerechten Verteilung der Migranten in der EU bleibt also auf der Agenda.

Die Diskussion um die Post-Brexit-EU wird zur Belastungsprobe für die Gemeinschaft

Das Versagen in der Flüchtlingskrise ist aber nicht die einzige Krise, die die Europäer derzeit zu bewältigen haben. Der Brexit stellt darüber hinaus eine weitere Belastungsprobe für die Gemeinschaft dar – eine Probe, die zu grundstürzenden Veränderungen in der EU führen könnte. Das politische Risiko für die EU liegt nicht so sehr in den bevorstehenden Verhandlungen zwischen den 27 EU-Partnern auf dem Kontinent und den Briten – hier haben die Kontinentaleuropäer ganz gute Karten –, sondern an osteuropäischen Staaten wie Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Sie wollen letztlich politische Macht von der Brüsseler Institutionen wieder in die Nationalstaaten zurückholen. Dies wurde auch beim jüngsten Treffen in Warschau deutlich .

Niemand will einen EU-Superstaat - aber einen Roll-back kann sich die Gemeinschaft auch nicht leisten

Keine Frage: Einen europäischen Superstaat will niemand. Aber einen machtpolitischen Roll back, wie ihn sich die Osteuropäer vorstellen, kann sich eine Gemeinschaft, die im 21. Jahrhundert bestehen will, auch nicht leisten. Und zu den Notwendigkeiten einer EU-Politik, die diesen Namen verdient, gehört auch ein gemeinsamer Kurs in der Flüchtlings- und Asylpolitik.

EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker besuchte übrigens am Donnerstag in der Brüsseler Kathedrale Saints-Michel-et-Gudule die traditionelle Messe zum belgischen Nationalfeiertag. Es war ein Hauch von Normalität in diesen Tagen, die alles andere als normal sind.

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