Trump und Brexit: Briten und Amerikaner mögen den Wandel mehr als wir
Beim EU-Referendum in Großbritannien zeigt sich: Die politische Mentalitäten sind unterschiedlich in Europa. Ein Kommentar.
Dürften die Deutschen bei Abstimmungen in Großbritannien und den USA mitentscheiden, wäre ein Brexit keine Option. Und Donald Trump hätte keine Chance, ins Weiße Haus einzuziehen. 79 Prozent der Deutschen wünschen in aktuellen Umfragen, dass die Briten in der EU bleiben. Allerdings sind die Anhänger des linken wie des rechten Rands auffallend weniger europafreundlich als die Kräfte der Mitte. 89 Prozent der CDU/CSU-Wähler wollen die Briten dabei behalten. Bei der SPD und den Grünen wünschen das 86 Prozent. Bei der Linken sind es rund 20 Prozentpunkte weniger, 69 Prozent; bei der AfD sogar nur 56 Prozent.
Sind die Deutschen also eine Stimme der Vernunft, die der internationalen Gemeinschaft einige Sorgen ersparen könnten, wenn man sie ließe? Sie sind bisher weniger empfänglich für nationalpopulistische Verführer als Franzosen, Österreicher oder Schweden. Der Anteil der deutschen Bürger, die die EU verlassen wollen, war zwar schon höher als die derzeit 13 Prozent – im Mai waren es 34 Prozent –, aber die Zahl liegt niedriger als in Frankreich oder Italien.
Würden Tories oder Labour einen parteipolitischen Zugriff auf die BBC wagen?
So verführerisch das Gedankenspiel für das gute Gewissen der Deutschen sein mag: Natürlich dürfen sie nicht im Ausland mitwählen. Zudem stecken sie nicht in den Schuhen der Briten, Amerikaner, Franzosen. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie sie wählen würden, wenn sie die Welt mit deren Augen sehen könnten.
Folglich ist es nur eine Hoffnung, dass das deutsche Interesse am Bleiben der Briten mit guten Argumenten zu tun hat. Eine EU ohne sie wäre weniger liberal und hätte weniger Gewicht. Als Seefahrernation sind sie Verfechter einer freien Wirtschaft und des freien Handels. Ihr Austritt würde die Balance in der EU zu Mitgliedsstaaten mit hohem staatswirtschaftlichem Anteil verschieben.
Europas Außen- und Sicherheitspolitik wäre ohne die Briten, ihr diplomatisches Netzwerk im Commonwealth und ihr Militär schwächer. Sie sind standfest, verteidigen westliche Werte gegen Russland und China, zeigen Abwehrbereitschaft, wenn Alliierte bedroht sind, wie jetzt Polen und Balten durch Moskau. Obwohl sie nach Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft um ein Viertel schwächer als Deutschland sind, bieten sie, wenn EU, Nato oder die UN um militärische Beiträge bitten, ebenso viel an. Oft sind ihre Einheiten flexibler einsetzbar. Ihr Fair Play ist ein Vorbild für Europa. Würden Tories oder Labour einen parteipolitischen Zugriff auf die BBC wagen, wie das in Polen mit dem öffentlichen Rundfunk geschieht und zumindest ansatzweise auch in Deutschland ?
Die Extrawünsche der Briten nerven bisweilen: Befreiung vom Ziel fortschreitender Integration, vom Euro, vom freien Reisen im Schengen-Raum. Doch dieser Ärger ist für Deutsche offenbar nicht entscheidend. Und ebenso wenig die Furcht vor ökonomischem Schaden durch einen Brexit.
Die Deutschen verbinden mit der EU auch ideelle Motive
Auch die Briten haben Vorteile von der EU. Wohlhabender, sicherer, stärker – so werben die Pro-Europäer. Ohne freien Zugang zum gemeinsamen Markt wären die Haushaltseinkommen niedriger. Die Kooperation in der EU erleichtert die Abwehr von Terror und organisiertem Verbrechen. In der EU hat Großbritannien mehr internationales Gewicht als ein solo agierender Nationalstaat.
Warum sind die Umfragen vor dem Referendum dennoch so knapp? Briten und Amerikaner haben eine andere Einstellung zu Umbrüchen. In Wählerbefragungen in den USA ist oft zu hören: Trump sei als Person auch nicht besser als die verhasste politische Klasse. Aber er breche die Macht des Establishments wenigstens auf. Danach sehe man weiter. „Disruption“ gilt als Wert an sich. Die Deutschen fürchten disruptiven Wandel. Angelsachsen verbinden mit Umbruch die Hoffnung, dass es danach besser kommen kann.
Ähnliche Mentalitätsunterschiede zeigen Bürgerbefragungen zum Brexit. Die Deutschen verbinden mit der EU auch ideelle Motive. Für viele Ältere ist Europa eine Frage von Krieg und Frieden; für viele Jüngere ist supranationale Integration besser als der in ihren Augen rückständige Nationalstaat. Briten sehen die EU zumeist ohne idealistischen Mehrwert. Sie fragen nüchtern: Was gewinnen und was verlieren wir? In der Migrationskrise wirkt die EU nicht wie eine Lösung; die sehen sie eher in ihrer Insellage. Gegenüber solchen Zweifeln verliert der ökonomische Vorteil der EU an Gewicht. Die Generationenfrage in Großbritannien: Die Älteren sind eher für den Austritt, die Jüngeren eher fürs Bleiben. Der Ausgang könnte davon abhängen, ob die Jungen zur Wahl gehen.