Stromversorgung: Bringt die Energiewende den Blackout?
Im kalten Februar geriet das Stromnetz in eine gefährliche Notlage, weil die Versorger den Bedarf unterschätzten. Kraftwerke gibt es noch genug. Aber es drohen Engpässe für die atomkraftfreie Zeit ab 2020.
Mike Weber, Schichtleiter im Kontrollzentrum des ostdeutschen Stromnetzbetreibers 50Hertz, ist eher der nüchterne Typ. Doch wenn er von jenem Montag im Februar berichtet, an dem Deutschlands Stromversorgung auf der Kippe stand, dann hebt er seine Stimme. „So etwas hatten wir noch nie, das war richtig Stress“, erzählt er, und noch die Erinnerung lässt ihn ungläubig den Kopf schütteln.
Dabei ist es ohnehin ein aufreibender Job, den der 40-jährige Ingenieur und seine Kollegen jeden Tag bewältigen. Denn sie sind verantwortlich für die Stabilität des Stromnetzes von Hamburg bis Thüringen und so für die Versorgung von 18 Millionen Menschen. Gemeinsam mit ihren Kollegen bei den drei übrigen Netzbetreibern Tennet, Amprion und TransnetBW steuern sie landesweit den Stromfluss. Würden sie versagen, blieben Züge und Maschinen stehen, würden Ampeln, Aufzüge und Beleuchtung ausfallen und die gesamte Telekommunikation vom Telefon bis zum Internet fände nicht mehr statt. Kein Strom, keine Zivilisation.
Webers Arbeitsplatz gleicht denn auch einem elektronischen Kommandostand und liegt streng abgeschirmt in einem unscheinbaren Flachbau neben einem Umspannwerk hinter der östlichen Berliner Stadtgrenze. An dessen Stirnwand zeigt ein überdimensionales Display die Leitungen des ostdeutschen Höchstspannungsnetzes und deren aktuelle Auslastung. Gleichzeitig liefert das System im Sekundentakt Tausende von Daten aus Kraftwerken, Verteilern sowie dem übrigen deutschen Stromnetz auf die vier Bildschirme vor ihm. Das Arbeitsziel ist immer gleich und doch häufig gefährdet: die Balance zwischen Erzeugung und Verbrauch. Weil Elektrizität im Netz nicht zu speichern ist, muss stets genauso viel Strom eingespeist werden, wie zum selben Zeitpunkt verbraucht wird. Fehlt es an Leistung, droht das Versagen von Millionen Maschinen. Wird zu viel eingespeist, laufen die Leitungen erst heiß und dann gar nicht mehr. So gleicht die Stromversorgung einem über viele Kanäle verbundenen Geflecht von Seen, in dem an zigtausend Orten Wasser zu- und abfließt. Sinkt der Wasserspiegel, versiegen die Abflüsse sofort. Steigt er, treten sie über die Ufer und reißen alles nieder.
Wenn etwa in der Pause eines Fußballländerspiels ein paar Millionen Fernsehzuschauer ihre Toilettenspülung betätigen und die Pumpen der Wasserwerke anspringen, müssen in Minutenfrist Leistungsreserven von einigen tausend Megawatt aus laufenden Kraftwerken abgerufen werden. Frischt plötzlich der Wind auf, gilt es dagegen den Saft aus Tausenden von Windturbinen über das Zuschalten von Pumpspeicherwerken abzuführen, bis andere Kraftwerke im gleichen Umfang gedrosselt werden können. Minutengenau wird daher jeder Tag anhand der Pläne der Stromlieferanten und der Wetterprognose geplant. Zudem halten die Netzwächter per Vertrag mit Kraftwerksbetreibern stets eine Reserveleistung vor. Schwankungen bis zu 3800 Megawatt, entsprechend der Leistung von vier großen Braunkohleblöcken, können sie daher ohne Mühe ausregeln.
Der Tag, an dem nichts nach Plan lief
Doch an jenem Montag, am 13. Februar, verlief nichts nach Plan. Der erste Warnschuss kam morgens um halb sieben. Binnen einer Viertelstunde schoss der bundesweite Stromverbrauch um 5000 Megawatt über die angemeldete Menge hinaus und zog die gesamte Reserveleistung. Zum Glück für die Netzwächter dauerte der Spuk nur wenige Minuten, und der europäische Verbund glich die Spitze aus, bis die planmäßig bestellte Kraftwerksleistung wieder den Verbrauch deckte.
Aber kurz vor zehn zeigte ein roter Balken auf Webers Bildschirm, dass in seiner, der ostdeutschen Regelzone schon wieder keine Reserven mehr verfügbar waren. Nach und nach griff das Problem auch auf die anderen drei Zonen über und gegen eins „standen alle vier Balken auf Rot“, erinnert er sich. Das System lief da noch sicher. „Wir wissen aber nie, was noch kommt, darum sind die Reserven zwingend notwendig“, erklärt Weber. Per Telefonkonferenz vereinbarten er und seine Mitstreiter in den drei anderen Leitwarten daher, zusätzliche Kapazität zu beschaffen und Weber informierte sein „Front Office“. Daraufhin begannen Mitarbeiter in der Zentrale von 50Hertz, an der Strombörse Leistung zuzukaufen. 300 Megawatt für vier Stunden bekamen sie so zusammen, wenn auch fünfmal so teuer wie sonst. Aber auch das reichte nicht. Darum alarmierten die Netzwächter die Kollegen in den Nachbarländern und stellten das europäische Alarmsystem auf Warnstufe gelb. Kurz vor vier schließlich griff Webers Kollege bei Tennet zum härtesten erlaubten Mittel: Per Telefon bestellte er den Zwangseinsatz von bis dahin nicht betriebenen Kraftwerken mit weiteren 1000 Megawatt Leistung. Erst dann entspannte sich die Lage.
So schlitterte Deutschlands Stromversorgung einen halben Tag lang am Rande des Notstands entlang. Wäre auch noch ein großer Kraftwerksblock plötzlich ausgefallen, „dann wäre es wirklich eng geworden“, sagt Lutz Schulze, Chef des Kontrollzentrums bei 50Hertz.
Doch was war eigentlich passiert? Weder mangelte es grundsätzlich an einsetzbaren Kraftwerken, noch hatte ein Sturm die Leitungen gekappt. Klar ist nur, dass die von den Stromlieferanten vertraglich mit den Kraftwerksbetreibern vereinbarten Liefermengen entweder nicht ausreichten oder nicht geleistet wurden und darum der tatsächliche Verbrauch der Kunden nicht gedeckt war. Aber wer oder was war dafür verantwortlich? Die erstaunliche Antwort lautet: Niemand weiß es. Aufklärung wird erst die Auswertung von Millionen Messdaten bringen, die noch bis Ende April dauern wird (siehe hier).
Aber gleich wie das Ergebnis ausfällt, eines halten Weber, Schulze und die meisten Fachleute längst für ausgemacht: Die Krisenanfälligkeit der Stromversorgung wird anhalten. Denn die Energiewende hat einen radikalen Umbau des Stromsystems in Gang gesetzt, der weit über die Abschaltung der Atomkraftwerke hinausgeht. Dabei hat die Politik zwei höchst widersprüchliche Entwicklungen betrieben, deren Konsequenzen erst jetzt deutlich werden.
Zum einen hat die seit 1998 betriebene Liberalisierung des Stromgeschäfts inzwischen tatsächlich einen echten Markt hervorgebracht. Die vielen Kritiker des früheren Oligopols der alten Verbundunternehmen haben sich durchgesetzt. Vorbei sind die Zeiten, als die vier Konzerne Eon, RWE, Vattenfall und EnBW mit ihrer Kontrolle über die Übertragungsnetze und viele Stadtwerke jeden Wettbewerber ausbooten konnten. Unter dem Druck von Europas Kartellbehörden mussten sie ihre Stromautobahnen an unabhängige Betreiber verkaufen, während gleichzeitig immer mehr Kommunen ihre Stromversorgung wieder in die eigene Hand nehmen. Im Ergebnis stehen nun am Strommarkt viele hundert Akteure im harten Wettbewerb. Jeden Tag werden mehr als 40 Prozent der gesamten Verbrauchsmenge über die Strombörse Epex in Leipzig und Paris vermarktet, wo stets das billigste Angebot gewinnt. Das drückt dauerhaft die Gewinnmargen der Kraftwerksbetreiber.
Gleichzeitig gilt aber – ganz gegen die Marktregeln– der politisch gewollte Vorrang der Stromerzeugung aus sauberen Quellen, deren Betreiber noch dazu feste Vergütungssätze erhalten. Ihr Strom fließt immer ins Netz, gleich wo er gebraucht wird. Erstmals stieg so im Jahr 2011 der Anteil des grünen Stroms am Gesamtverbrauch auf fast 20 Prozent. Und bis 2020 sollen es nach den Plänen der Bundesregierung sogar 35 Prozent werden.
Damit erfährt das Stromgeschäft eine Kombination von Markt- und Planwirtschaft, die für den Übergang zwar unvermeidlich ist. Aber nun ist das System so komplex, dass zuweilen selbst die beteiligten Akteure – so wie im kalten Februar – nicht mehr durchblicken. Die notwendigen Anpassungen werden allein bei den Netzbetreibern viele Milliarden Euro kosten (siehe hier).
Gleichzeitig führt der Vorrang für den Ökostrom immer häufiger zum Absturz der Großhandelspreise und gefährdet damit indirekt die Sicherheit der Versorgung. Denn je mehr mit Windgeneratoren, Solarmodulen und Biogaskraftwerken erzeugt wird, umso weniger können die Betreiber konventioneller Kraftwerke verkaufen. Weil damit ihre Renditen schwinden, droht Stillstand beim Bau neuer Kraftwerke.
Gewinnkiller Nummer eins: die Fotovoltaik
Gewinnkiller Nummer eins für die traditionelle Strombranche ist die wachsende Zahl von Fotovoltaik-Anlagen. Zwar steuern diese erst gut drei Prozent des Gesamtverbrauchs bei. Aber diesen Beitrag liefern sie vornehmlich in den Mittagsstunden, wenn auch der meiste Strom verbraucht wird. An sonnigen Tagen steigt selbst im Winter die Solarleistung schon auf 15 000 Megawatt, so viel, wie zwölf Kernkraftblöcke produzieren. Die „Kochspitze“ am Mittag war aber früher jene Zeit, in der die höchsten Gewinne anfielen. Denn an der Börse bestimmt das letzte Kraftwerk, das zur Deckung des Verbrauchs benötigt wird, den Preis. Das war bei hohem Verbrauch meist eines, das mit teurem Gas läuft. Für Strom aus abgeschriebenen Atommeilern oder Kohlekraftwerken waren die Spitzenlastzeiten daher stets die goldenen Stunden des Tages. Da bekamen sie für ihre Kilowattstunden genauso viel wie für jene aus teuren Gas-Meilern und konnten so ein Vielfaches ihrer Kosten einstreichen. Doch wenn die Sonne scheint, dann folgen die Preise heute eben nicht mehr dem Verbrauch. Stattdessen drückt die „Solardelle“ am Mittag den Preis pro Kilowattstunde auf unter vier Cent. Hinzu kommt die Leistung von inzwischen 29 000 Megawatt aus Windgeneratoren. An sonnigen und windigen Tagen werden viele konventionelle Kraftwerke daher nur noch mit ihrer Mindestleistung eingesetzt, um die Spannung im Netz zu halten.
Das aber droht schon bald viele Kohle- und Gasmeiler unrentabel zu machen. Daher ist kein Investor mehr bereit, neue zu errichten. Unter den heutigen Bedingungen sei es „kaum noch möglich, neue Investitionen in fossile Kraftwerke zu rechtfertigen“, warnte Sven Becker, Chef der Firma Trianel, einem Gemeinschaftsunternehmen von mehr als 100 Stadtwerken, im Fachblatt „Energie & Management“. Tatsächlich werden ursprünglich geplante Kraftwerksneubauten bereits wieder storniert. So will die Advanced Power AG im brandenburgischen Wustermark nun doch nicht bauen, und der norwegische Statkraft-Konzern hat ein großes Gas- Projekt in Emden gestoppt. Das Unternehmen nahm sogar sein bestehendes 430-Megawatt-Gaskraftwerk in der Nordseestadt ganz vom Netz. Es komme „zu selten zum Einsatz“, begründete Konzernvorstand Asbjorn Grundt die Entscheidung.
Doch gerade Gaskraftwerke sind unverzichtbar, weil ihre Leistung leicht zu regeln ist und es den Netzwächtern erlaubt, die Schwankungen bei Wind und Sonne schnell auszugleichen. Für windstille und schattige Tage werden zudem auch Kohlekraftwerke noch für lange Zeit zwingend gebraucht, um die Versorgung sicherzustellen. Derzeit sind nach Angaben der Bundesnetzagentur immerhin noch 22 Kraftwerke im Bau, die nach Abzug der zur Stilllegung angemeldeten älteren Anlagen bis 2014 noch einmal eine Kapazität von 8000 Megawatt zusätzlich ans Netz bringen werden, genug also, um die Stilllegung von weiteren sieben der verbliebenen zwölf Kernkraftblöcke auszugleichen. Aber spätestens ab 2020, wenn die letzten Atommeiler vom Netz gehen sollen, könnte es ohne Gegenmaßnahmen „zu gefährlichen Engpässen kommen“, warnt Felix Matthes, Energieexperte beim Öko-Institut und einer der besten Kenner des Stromsystems. Notwendig sei daher ein Marktmechanismus, der Kraftwerksbetreiber für das Bereithalten von Kapazität auch dann bezahlt, wenn diese nicht gebraucht wird, fordert Matthes und weiß sich darin einig mit dem kürzlich ausgeschiedenen Chef der Bundesnetzagentur, Matthias Kurth. Die Versorgungssicherheit dürfe „nicht allein den Kräften des reinen Strommarktes überlassen bleiben“, mahnte Kurth.
Auch Franz Untersteller, grüner Umweltminister in Baden-Württemberg, fordert eindringlich die Einrichtung eines solchen Kapazitätsmarktes. Künftig solle die Bundesnetzagentur die fehlenden Reserven ausschreiben, schlägt er vor. Dabei müssten keineswegs nur die Besitzer von Großkraftwerken zum Zuge kommen. Auch große Verbraucher wie Kühlhäuser oder Hüttenbetriebe könnten sich den zeitweiligen Verzicht auf Strombezug bezahlen lassen. „Entscheidend ist, dass wir das spätestens im Jahr 2013 beschließen, damit bis 2019 die passenden Anlagen bereitstehen“, mahnt Untersteller. Andernfalls gehe „die Debatte über die Laufzeitverlängerung schon bald wieder von vorne los“.
Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) legt es jedoch offenkundig genau darauf an. Er lehnte den Vorschlag ab und forderte, der Markt solle den nötigen Anreiz für Kraftwerksinvestitionen setzen – ganz so, wie es die Manager der alten Stromkonzerne fordern. Denn würde es tatsächlich zu Knappheiten kommen, würden die Börsenpreise explodieren und mit ihnen die Gewinne. Doch eine solche Strategie hält Systemexperte Matthes für „unverantwortlich“. Bis die Börse das richtige Signal setze, werde es zu spät sein, um vorzusorgen. Ausbaden müssten das dann die Hüter der Netzstabilität in den Leitwarten. Mike Weber und seinen Kollegen drohen noch viele stressige Tage.