Kältekrise im Stromnetz: Gefährliche Fehlprognosen
Im Februar meldeten viele Stromversorger ihren Bedarf zu niedrig an und provozierten so eine Notlage, weil die Netzbetreiber alle Reserven einsetzen mussten, um das Defizit auszugleichen. Der Verdacht, dass Händler absichtlich auf die billige Regelenergie spekuliert haben, ist aber kaum zu beweisen.
Als in den ersten beiden Februarwochen das sibirische Hoch „Cooper“ ganz Europa mit klirrender Kälte überzog, da geriet die deutsche Stromversorgung gleich von drei Seiten unter Druck.
Weil in Frankreich die meisten Haushalte mit Strom heizen, stieg dort der Verbrauch in der Spitze auf eine Last von über 100 000 Megawatt – fast 40 Prozent mehr, als die 58 Kernkraftwerke des Landes liefern können. In der Folge schoss der Strompreis im französischen Markt auf zeitweilig mehr als zwei Euro pro Kilowattstunde (kWh), zehn mal mehr, als zur selben Zeit auf dem deutschen Markt geboten wurde. Darum exportierten deutsche Anbieter so viel, wie die Leitungen über die Grenze hergaben. Tagelang floss daher Leistung in der Größenordnung von fünf großen Kernkraftblöcken in den Export.
Gleichzeitig mussten aber einige Gaskraftwerke wie zum Beispiel eines der EnBW in Karlsruhe vom Netz gehen, weil ihre Lieferanten wegen der hohen Nachfrage in Italien die Gaszufuhr drosselten.
Entsprechend wild ging es auch im Stromhandel zu. In dessen Zentrum steht das deutsch-französische Börsenunternehmen EPEX mit Sitz in Paris. Dort werden online, getrennt nach den Lieferländern Deutschland und Österreich, Frankreich und der Schweiz, jeden Mittag um zwölf Uhr Stromlieferungen für den folgenden Tag auktioniert. Die Liste der rund 900 registrierten Händler reicht von den großen Stromkonzernen über Banken und Broker bis hin zu vielen Stadtwerken. Ihre anonymen Gebote für Kauf und Verkauf ergeben am Ende der Auktion ein Bündel aus Liefer- und Abnahmeverpflichtungen für jede Stunde des nächsten Tages, das die Börse an die Netzbetreiber übermittelt. Die so kontrahierten Lieferungen decken im Schnitt bereits mehr als 40 Prozent des Verbrauchs. Die übrigen Mengen beziehen die Verteilerunternehmen über direkte Verträge mit Kraftwerksbetreibern. Auf Basis dieser Vereinbarungen, der Wetterprognose für den Wind- und Solaranteil sowie dem erwarteten Verbrauch ihrer Kunden erstellen alle beteiligten Unternehmen für ihren Bereich des Marktes täglich einen Plan, den sie bei den Betreibern der Übertragungsnetze anmelden. Aus allen diesen sogenannten Bilanzkreisen einschließlich dem der Börse schmieden die Netzbetreiber schließlich ihren Tagesfahrplan. Abweichungen von den Prognosen gleichen sie mit Hilfe ihrer Regelreserven aus, die sie ohnehin bereithalten müssen. Die Kosten dafür stellen sie später den Verursachern in Rechnung, und im Normalfall sind die Kilowattstunden aus der Reserve teurer als jene von der Börse – ein guter Grund, möglichst genaue Prognosen zu erstellen.
Doch die sibirische Kältewelle brachte alles durcheinander. Der Preis stieg an der Börse zeitweise auf 35 Cent/kWh, sieben mal mehr als gewöhnlich. Zugleich stieg der Verbrauch über viele Stunden weit über die Prognosen. Darum reichte die bestellte Produktion in den Kraftwerken nicht aus. Die Netzbetreiber mussten alle Notreserven mobilisieren und gerieten dem Blackout gefährlich nahe. Offenbar hatten viele Händler Fehlprognosen abgegeben, die sich gemeinsam zur Gefahr addierten. Dabei gibt es eigentlich auch für extremen Frost „zuverlässige Erfahrungswerte“, versichert der Strommarkt-Experte Tobias Federico, Chef der Firma Energy Brainpool.
So kam der Verdacht auf, dass viele Stromhändler wegen des hohen Preises ihren Bedarf absichtlich zu niedrig kalkulierten, um von dem potenziell billigeren Reservestrom der Netzbetreiber zu profitieren, der im Schnitt je nach Bedarf mit zehn bis 20 Cent/Kwh zu Buche schlägt. Unter Berufung auf „Insider“ berichtete die „Berliner Zeitung“, hinter den Fehlprognosen stehe „offenbar Vorsatz“ mit dem Ziel der „Profitmaximierung“. Aber die griffige Anklage passt nicht an allen Krisentagen zu den Fakten. Denn die Engpässe traten auch in Zeiten auf, in denen der Börsenpreis unter jenem lag, der für die Reserveleistung zu erwarten war. Am 13. Februar etwa fehlten gegenüber den Prognosen bis zu 5000 Megawatt, obwohl die Kilowattstunde tags zuvor für denselben Zeitraum für zwölf Cent zu kaufen war. Die Spekulation auf den Reservestrom hätte keinen Sinn ergeben.
Wer die gefährlichen Schieflagen tatsächlich zu verantworten hat, soll nun der Abgleich aller Zu- und Abflüsse in den Übertragungsnetzen mit den eingereichten Prognosen bringen, den die Bundesnetzagentur angefordert hat. Wegen der Fülle der Daten sei aber erst frühestens Ende April mit Ergebnissen zu rechnen, sagte ein Sprecher der Behörde.
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