EU-Austritt Großbritanniens: Brexit mit Heinrich VIII.
Mit der Überleitung von EU-Gesetzen in britisches Recht beginnt der Brexit nun wirklich. Doch die konservative Regierungspartei sucht noch immer nach einer gemeinsamen Linie.
„Great Repeal Bill“ hat Theresa May das Vorhaben genannt, das am Donnerstag im britischen Unterhaus in die entscheidende Phase eingetreten ist. Der Entwurf für das „große Aufhebungsgesetz“ heißt zwar offiziell „European Union Withdrawal Bill“, also Gesetz zum Rückzug aus der Europäischen Union. Aber May hatte ihre Worte schon bewusst gewählt vor dem Parteitag der Konservativen vor einem Jahr: Das Mammutprojekt soll den Briten, jedenfalls den austrittswilligen, suggerieren, dass Großbritannien nun wieder souverän wird, sich losmacht von den Gesetzen der EU, keine Rücksicht mehr nehmen muss auf die Verordnungen aus Brüssel.
Was die Tories nicht laut sagen: Der Gesetzentwurf wandelt tatsächlich nur das bestehende EU-Recht in britisches Recht um, damit beim Austritt 2019 kein rechtsfreier Zustand entsteht. Auf Jahre hinaus wird also umgetauftes EU-Recht auf der Insel seine Gültigkeit behalten, es sind abertausende Regelungen. Aufgehoben wird tatsächlich vor allem das Gesetz von 1972, das den Beitritt zur damaligen Europäischen Gemeinschaft einleitete. Die Vorlage – „eines der größten Gesetzgebungsprojekte, die es jemals im Vereinigten Königreich gegeben hat“, so die Beschreibung durch das Unterhaus selbst – dürfte eine turbulente Karriere haben.
Denn die oppositionelle Labour Party hat schon angekündigt, am Montag bei der Zwischenabstimmung mit Nein zu votieren. Dann geht es in die Beratung in den Ausschüssen – und hier dürften auch Tory-Abgeordnete gelegentlich andere Akzente setzen wollen als die Regierung, die nervös auf möglichst große Geschlossenheit in den eigenen Reihen pocht. Denn Mays Mehrheit ist nach der schief gegangenen Wahl vom Juni nur knapp. Ein knappes Dutzend Abweichler in den eigenen Reihen könnte schon reichen, und die nächste Regierungskrise ist da.
Umwandlung per Dekret?
Zumal eines sehr umstritten ist bei der „Great Repeal Bill“. Und das hat mit Heinrich VIII. zu tun (dem mit den sechs Ehefrauen). Eine Vorschrift aus seiner Regierungszeit (aus dem Jahr 1539) ermöglicht das Regieren per Dekret – im britischen System, mit der Parlamentshoheit als Kern, ein kritischer Punkt. Denn die Exekutive kann sich am Unterhaus vorbei per Verordnung zum Gesetzgeber aufschwingen. Der Anlass, die Heinrich-Klausel anzuwenden, ist zwar die schiere Größe der Aufgabe, Tausende von Gesetzestexten zu überprüfen und gegebenenfalls in kleinen Details zu verändern oder anzupassen.
Doch Kritiker in Medien und Wissenschaft sprechen von einem "power grab" der Exekutive, von einer Eigenermächtigung. Und auch die selbstbewussteren Parlamentarier wollen nicht durchgehen lassen, dass hier ein Präzedenzfall entsteht. Labour, Schottische Nationalpartei und Liberaldemokraten verweisen darauf, dass bei Arbeitnehmerrechten oder Umweltvorschriften schon kleine Korrekturen durch die Ministerien zu einem etwas anderen Recht führen – die Konservativen also den undurchsichtigen Prozess nutzen könnten, um EU-Recht auf ihre Weise in britisches Recht umzuwandeln.
Für die kleine Truppe der Brexit-Skeptiker bei den Tories ist es andererseits eine Möglichkeit, angesichts der knappen Regierungsmehrheit die Austritts-Hardliner in der eigenen Partei etwas zu bremsen. Diese Hardliner, etwa 80 bis 100 Abgeordnete, die sich eher auf den hinteren Bänken wohlfühlen, führten gerade erst wieder ihren Brexit-Extremismus vor: Großbritannien, so ihre Ansicht, schulde nach dem EU-Austritt der Union gar nichts (Brüssel sieht Milliardenverpflichtungen der Briten) – ganz im Gegenteil, es geben einen Milliardenanspruch auf Zahlungen aus Brüssel, zum Beispiel für die Anteile Großbritanniens an der Europäischen Investitionsbank. Deren Dienste will das Königreich allerdings gar nicht so schnell loswerden, wie Austrittsminister David Davis deutlich machte.
Konservative Scharmützel
Ein Beispiel von vielen für das Durcheinander der Positionen bei den Tories. Die hatten sich im August zwar darauf verständigt, für die unmittelbare Zeit nach dem Austritt eine Übergangsphase anzustreben, mit möglichst enger Anbindung an die EU, um keine wirtschaftliche Bruchlandung zu erleben. Doch wie das konkret aussehen soll, ist weiter unklar. Davis äußerte am Donnerstag, Binnenmarkt-Anbindung nach dem norwegischen Modell sei dafür nicht die beste Lösung. Auch in der Frage der künftigen Zuwanderungspolitik (vor allem mit Blick auf EU-Bürger) gibt es noch keine Einigkeit.
Während May einem dem „Guardian“ zugespielten Entwurfspapier aus dem Innenministerium, das auf eine eher harte Linie hinausläuft, nicht widersprach, lehnen nach einem Bericht des „Daily Telegraph“ ausgerechnet Innenministerin Amber Rudd und Schatzkanzler Philip Hammond (beide keine Brexit-Hardliner) eine solch restriktive Zuwanderungspolitik ab - im Einklang mit den britischen Arbeitgebern.
Bei all den Brexit-Scharmützeln in der Tory-Fraktion und im Kabinett ist die Frage, ob May noch lange Premierministerin sein wird, in den Hintergrund getreten. Vorerst scheint sie sicher im Sattel zu sitzen – jedenfalls ist die Partei darum bemüht, sie zumindest auf dem Pferd zu halten. Es gibt derzeit keinen klaren Nachfolgefavoriten. In einer Umfrage der parteinahen Website „Conservative Home“ liegt Jacob Rees-Mogg in Führung (mit 19 Prozent Zustimmung), ein schrulliger Rechtsaußen vom Typ englischer Landjunker, der Abtreibung auch nach Vergewaltigung nicht dulden möchte.
Wie einig ist Labour?
Bei Labour hat derweil Brexit-Schattenminister Keir Starmer eine Art gemeinsame Linie zur Übergangsphase nach dem Austritt erreicht: Die große Oppositionspartei will für einige Jahre ungehinderten Binnenmarktzugang und Mitgliedschaft in der EU-Zollunion. Status quo also ohne politische Beteiligung in Brüssel – eine Position, die freilich der zum Teil sehr Brexit-freundlichen Labour-Wählerschaft noch vermittelt werden müsste und nicht wenigen Hinterbänklern der Fraktion auch. Ob Parteichef Jeremy Corbyn, ein lebenslanger EU-Gegner, im Alter nun plötzlich zum Kompromissler gegenüber Brüssel wird, ist unklar.
Er hat den Sommer damit verbracht, durchs Land zu touren – die Labour-Linken setzen darauf, dass die zerstrittene Tory-Regierung mit ihrer knappen Mehrheit scheitert und es schon im kommenden Jahr wieder zu einer Neuwahl kommt. Sie hoffen auf einen Wahlsieg, der eine ganz neue Wirtschafts- und Sozialpolitik ermöglicht, weg von der Freie-Markt-Obsession der Konservativen, aber auch vom Dritten Weg von Tony Blairs New Labour. So träumen sich die Ränder der beiden großen Parteien in eine vergangenheitsselige Zukunft hinein – alter Wohlfahrtsstaat hier, globale, unabhängige Handelsnation dort.
Stimme der Vernunft
Der moderate Tory-Veteran Kenneth Clarke, Ex-Schatzkanzler und nun dienstältester Abgeordneter, appellierte in der Debatte am Donnerstag an Tories wie Labour, im „nationalen Interesse“ zusammenzukommen. „Die Leute sind keine Dummköpfe“, sagte er. „Die Öffentlichkeit weiß doch, dass beide Parteien zutiefst gespalten sind und es im Kabinett wie im Schattenkabinett extreme Meinungen gibt.“ Sein Vorschlag: „Eine Debatte unter Erwachsenen“ mit dem Ziel, den Zugang zu Binnenmarkt und Zollunion nicht zu verspielen. Die Erwachsenen, so lässt sich schließen, sieht Clarke in der Mitte.
Albert Funk