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Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon will einen Zeitplan für ein neues Unabhängigkeitsreferendum vorlegen.
© Oli Scarff/AFP

Schottische Unabhängigkeit: Brexit-Chaos als Chance

Schottland spielt erneut mit der Idee, sich von Großbritannien zu trennen.

Was bedeutet der Ausdruck „in den nächsten Wochen“? Sind zwei gemeint, vier oder gar 16? Politisch interessierte Schotten vertreiben sich derzeit dunkle Pub-Abende mit diesen Fragen. Ausgelöst hat das Rätselraten die Edinburgher Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon: „Binnen weniger Wochen“ werde sie den Zeitplan für eine zweite Volksabstimmung über Schottlands Unabhängigkeit vorlegen.

Ausgerechnet einen Besuch in Westminster, dem Londoner Regierungsviertel, nutzte die Vorsitzende der Nationalpartei SNP zu der überraschenden Ankündigung. Zwar wusste man schon vorab, dass Sturgeon von ihrem Lieblingsvorhaben nicht lassen mag. Aber im Unterhaus geht es praktisch seit Wochen nur noch um den EU-Austritt und seine Folgen. Von dem anderen Referendum, das vor gut vier Jahren sogar die Existenz des Vereinigten Königreichs gefährdete, war kaum noch die Rede.

Als die Nationalisten 2014 mit 45:55 Prozent ehrenvoll unterlegen waren, hatten sie zugesichert, das Ergebnis zugunsten der Union mit England, Wales und Nordirland zu respektieren. Doch schon bei der Regionalparlamentswahl zwei Jahre später sprach Sturgeon davon, die Lage könne sich ändern, „wenn sich die Umstände ändern“. Und wer würde bestreiten, dass der bevorstehende Brexit eine Umwälzung fürs gesamte Land darstellt?

Immer wieder hat Sturgeon darauf verwiesen, dass im Juni 2016 zwei Drittel der Schotten in der EU bleiben wollten. Umfragen zufolge ist dieser Anteil mittlerweile auf 70 Prozent gestiegen. Das Regionalparlament verweigerte dem EU-Austrittsgesetz des Unterhauses symbolisch die Zustimmung. Im Herbst verlangte der SNP-Parteitag, Großbritannien solle, um wirtschaftlichen Schaden zu vermeiden, wenigstens im EU-Binnenmarkt verbleiben.

Gleichzeitig haben die Nationalisten beharrlich ihre Vorbereitungen für die ersehnte Unabhängigkeit vorangetrieben. Eine parteiinterne „Kommission für nachhaltiges Wachstum“ legte im vergangenen Jahr einen 350-seitigen Bericht vor. Darin erörterten die Ökonomen nicht zuletzt jene Probleme, die den Nationalisten in der Kampagne 2014 auf die Füße gefallen waren. Dazu gehört die Frage der zukünftigen schottischen Währung. Kommissionschef Andrew Wilson und sein Team raten zur Vorsicht: Der Norden der britischen Insel solle mindestens zehn Jahre lang das Pfund beibehalten, also ein Anhängsel Großbritanniens bleiben. Dagegen regt sich innerparteilicher Widerstand.

Sind aber solche Debatten relevant? Einstweilen deutet trotz des Brexits wenig darauf hin, dass die Schotten der Unabhängigkeit nähertreten wollen. „Die bürgerliche Mitte hat ihre Meinung nicht verändert“, weiß Scott Lavery von der Uni Sheffield. Der bekannteste Interpret von Meinungsumfragen, Professor John Curtice von der Glasgower Strathclyde-Uni, hat die entsprechenden Zahlen zur Hand: „Das Verhältnis von Befürwortern der Unabhängigkeit und Gegnern liegt bei etwa 45:55 Prozent“ – mehr oder weniger punktgenau das Ergebnis von 2014.

Eifrige Aktivisten verweisen darauf, dass zu Beginn der damaligen Kampagne sich kaum mehr als ein Drittel der Schotten zu einem Ja bekannt hatten. Mit ein wenig Überzeugungsarbeit sei der Umschwung zu schaffen. Hingegen warnt der scheidende SNP-Europaparlamentarier Alyn Smith vor allzu großer Hast. Gerade wegen der Unsicherheit rund um den Brexit seien wichtige Fragen bezüglich der Unabhängigkeit ungeklärt.

Ein Datumsvorschlag für ein zweites Referendum ist der 28. März - ein Tag vor dem Brexit-Austrittstermin

Andere drängen zum Handeln. Der frühere SNP-Abgeordnete George Kerevan will schon in diesem Jahr abstimmen, der Glasgower Sozialist Tommy Sheridan nannte sogar ein Datum: den 28. März, einen Tag vor dem Brexit-Austrittstermin. Auch Sturgeons Vorgänger in Partei- und Staatsamt sieht die Londoner Brexit-Probleme als Chance für Schottland. Es gebe „wahrscheinlich keinen besseren Zeitpunkt als jetzt“, glaubt Alex Salmond.

Allerdings hat der brillante Stratege, derzeit gravierendere Probleme. Am vergangenen Donnerstag erhob die Staatsanwaltschaft offiziell Anklage gegen Salmond. Insgesamt 14 Sexualdelikte gegen zwei Frauen werden dem Politiker vorgeworfen, darunter zwei versuchte Vergewaltigungen. Die Vorfälle beziehen sich auf seine Amtszeit als Ministerpräsident bis 2014. „Ich bin völlig unschuldig“, beteuerte Salmond.

Die Art und Weise, wie die Vorwürfe von der schottischen Regierung behandelt wurden, hat bereits zu massiven Spannungen innerhalb der SNP geführt. Der Prozess werde Salmonds Partei und ihrer Raison d’Être schweren Schaden zufügen, hofft der unionistische „Daily Telegraph“.

Mag sein. Doch die Anhänger der Unabhängigkeit hätten mit ihrem jahrzehntelang verlachten Anliegen schon jetzt „die schottische und die britische Politik unwiderruflich verändert“, glaubt Gerry Hassan von der Universität Dundee.

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