Pro und Contra: Brauchen wir eine Vollzeit-Familienministerin?
Nach Franziska Giffeys Rücktritt übernimmt Justizministerin Christine Lambrecht ihr Amt. Reicht das, oder fordert es vollen Einsatz? Eine Debatte.
Pro: In normalen Zeiten, wäre das „Nebenher-Mitregieren“ des Familienministeriums völlig in Ordnung. Die meisten Projekte sind auf dem Weg, dazu die Einarbeitungszeit für eine neue Ministerin, einen neuen Minister - und hohe Ausgaben für Amtsbezüge.
Aber diese Zeiten sind nicht normal. Die Folgen der Pandemie für Kinder, Jugendliche und Familien sind teils dramatisch. Es geht hier um mehr als Grußworte oder das Abarbeiten von Kleinigkeiten, die auch Staatssekretäre oder Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) abends nach ihrem Dienst im eigentlichen Ressort mal eben mitmachen kann.
Sowohl das für zahlreiche Rechtsverordnungen und Gesetze mit Corona-Bezug zuständige Justizressort, als auch das Familienressort brauchen jetzt klare, sichtbare Führung.
Franziska Giffey war präsent, hat sich mit Betroffenen zusammengeschaltet. Auch wenn viele Eltern auf sie nicht gut zu sprechen sind, das Schließen von Schulen und Kitas brachte viele an psychische Belastungsgrenzen, hier fühlten sich viele alleingelassen. Und sicher: Dass Giffey geht, um ihre Wahlchancen in Berlin zu verbessern, ist für manche Eltern und Alleinerziehende ein Schlag ins Gesicht.
Gerade deshalb braucht es jetzt eine Vollzeitbesetzung, wenngleich die SPD wenig geeignete Kandidatinnen hat. Aber es geht hier um die Symbolik, um Emotion, es bräuchte eine empathische Menschenfängerin.
Es braucht eine Kümmerin, die zuhört und erklärt
Der Satiriker Jan Böhmermann bringt die Wut über die Teilzeitbesetzung des Ressorts so auf den Punkt: „Wozu brauchen Familien ein Familienministerium? Die letzten 14 Monate haben gezeigt: Familien brauchen überhaupt nix! Keine Unterstützung beim Homeschooling der Kinder, keine Entlastung für berufstätige Eltern, kein Geld, keine Priorisierungen, keine Test, GAR NIX!“
Gerade jetzt, wo Begegnungen wieder möglicher werden, braucht es eine Kümmerin, die nach Berlin-Neukölln oder Köln-Chorweiler fährt, Hoffnung macht, zuhört. Und die bei den Landesministern Druck macht, dass das von Kabinett beschlossene Aufholpaket rasch umgesetzt wird.
Mit einer Milliarde Förderung sollen Lernrückstände aufgeholt werden, dazu die frühkindliche Bildung, Ferienfreizeiten und die Sozialarbeit gestärkt werden. Zudem gibt es auf kommunaler Ebene Widerstand gegen den beschlossenen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung.
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Hier muss eine Ressortchefin eigentlich den ganzen Tag am Telefon hängen, Schalten machen. Auch Giffey musste immer wieder die Erfahrung machen, dass die Mühen der Ebene die eigentliche Herausforderung sind, das Durchsetzen der Details mit den verschiedenen Verwaltungsebenen in einem föderalen System wie dem bundesrepublikanischen. Und je nachdem, wie die Bundestagswahl am 26. September ausgeht, kann es noch bis Oktober oder November dauern, bis es ein neues Bundeskabinett gibt.
Im Sommer und Herbst soll es eine bundesweite Offensive geben, um verpassten Unterrichtsstoff aufzuholen, aber auch um „Bindungslücken“ der Kinder zu schließen. Hier im Land herumzureisen, Präsenz und Gesicht zu zeigen, das kann helfen, Wut und Frust zu mildern. Daher braucht es keine Teilzeit-, sondern eine Vollzeitlösung im Ministerium.
Contra: Es wäre ein seltsames Signal, wenn der Bundespräsident nur vier Monate vor der Bundestagswahl einer Politikerin oder einem Politiker die Ernennungsurkunde als Bundesfamilienministerin oder -minister überreichen würde, die oder der bislang nicht im Kabinett vertreten war. In den 16.500 Euro Gehalt für diese Aufgabe lauert ein gewaltiges Verhetzungspotenzial. Den Sound der Schlagzeilen - „Operation Abendsonne“ oder „Selbstbedienung auf den letzten Metern“ - hört man schon. Den Verächtern des politischen Systems muss niemand noch eine Steilvorlage liefern.
Man sollte die Leistungsfähigkeit eines gut aufgestellten Bundesministeriums nicht unterschätzen, die Gestaltungsmöglichkeiten einer neuen Ressortchefin oder eines neuen -chefs in den Wochen bis zur Bundestagswahl nicht überschätzen.
Die Zeiten sind nicht danach, dass ein Mann Familienminister wird. Es mag sein, dass es Politikerinnen gibt, die grandiose Ideen haben, wie Kinder, Jugendliche und Familien geholfen werden kann, die unter den Corona-Restriktionen leiden. Aber nichts wäre allein dadurch gewonnen, dass eine von ihnen am Ministerschreibtisch in der Glinkastraße Platz nehmen würde. Es ist ein langwieriger Prozess, bis aus einer Idee ein Gesetz wird, mag sie noch so toll sein.
Keine Familie hätte wegen einer Vollzeitministerin mehr Geld
Mit einer Ankündigung ist es jedenfalls nicht getan. Kein Ministerium agiert in luftleerem Raum. Jemand schreibt einen schönen Entwurf, dann reden alle Referate mit, werden Experten gefragt, andere Ressorts eingebunden, die Verbände beteiligt, den Fraktionen im Bundestag Enwürfe geschickt. Es ist mittlerweile Hochsommer geworden, das Parlament hat Pause.
Keine Familie hat dank der neuen Ministerin einen Cent mehr in der Tasche als zuvor. Und dann wird schon bald gewählt. Die Newcomerin verwaltet dann das Ressort, bis die neue Regierung steht, kann aber nicht mehr gestalten.
Franziska Giffey hat dafür gekämpft und erreicht, dass die große Koalition seit Ausbruch der Pandemie Milliardensummen für Familien aufgebracht hat. Das Corona-Aufholpaket für Kinder und Jugendliche im Umfang von zwei Milliarden Euro ist gerade erst vor zwei Wochen verabschiedet worden und muss erst noch umgesetzt werden.
In ihrer Rücktrittserklärung hat Giffey zudem darauf hingewiesen, sie habe alle Aufgaben des Koalitionsvertrages für ihr Ressort durchs Bundeskabinett gebracht. Das stimmt, doch die Länder müssen dem Gesetz über den Rechtsanspruch für Ganztagesbetreuung erst noch zustimmen, nach dem auch die Grundschulen in wenigen Jahren ein verlässliches Angebot machen sollen.
Der Bund bietet den Ländern dafür viel Geld: 3,5 Milliarden Euro für den Ausbau und fast eine Milliarde für Betriebskosten jährlich, doch manche Flächenländer wollen mehr. Es stehen also haarige, komplizierte Verhandlungen bevor, und die Zeit drängt. Justizministerin Christine Lambrecht hat genug Erfahrung in solchen Prozessen und genug Autorität, um auch direkt mit einem Ministerpräsident zu verhandeln. Eine Neue hätte die nicht.
Gelingt die Einigung Anfang Juni, dann sind bis September nur noch Grußworte zu sprechen. Dafür braucht diese Bundesregierung keine Vollzeitministerin.