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Boris Johnson
© GEOFFROY VAN DER HASSELT / AFP

Britischer Notfallplan „Yellowhammer“: Boris Johnson spekuliert mit der Katastrophe

Der britische Premier spielt mit dem No-Deal-Brexit, um seine Wahl-Chancen zu verbessern. Das ist rücksichtslos. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Notfallpläne macht eine Regierung für unvorhersehbare und unabwendbare Katastrophen von außergewöhnlichem Ausmaß. Etwa einen Wirbelsturm. Der kann Straßen, Häfen und andere Infrastruktur lahmlegen und tagelange Versorgungsengpässe bei Lebensmitteln, Medikamenten, Kommunikation und Energie hervorrufen, die wiederum zu Todesfällen oder Unruhen führen.

Eine mutwillig herbeigeführte Notlage für Millionen Menschen

Das britische Parlament hat die Regierung gezwungen, ihre Pläne für eine ganz andere Art Notfall zu veröffentlichen. Das Papier "Yellowhammer" beschreibt die Folgen eines No-Deal-Brexits. Auch die wären katastrophal. Der Auslöser ist jedoch weder unvorhersehbar noch unvermeidbar. Es wäre eine mutwillig herbeigeführte Katastrophe für das Leben von Millionen Bürgern.
Falls das Vereinigte Königreich am 31. Oktober ohne Abkommen aus der EU stolpert, würden über Nacht neue Bedingungen für den grenzüberschreitenden Verkehr auf Straße, Schiene und durch die Luft sowie die Zollabfertigung gelten. Der Nachschub mit Waren des täglichen Bedarfs würde laut „Yellowpaper“ auf die Hälfte des aktuellen Niveaus sinken. Engpässe bei Nahrung, Medikamenten und Treibstoff wären die Folge. In den Tagen zuvor sei mit Hamsterkäufen zu rechnen. Das werde die Versorgungslage verschärfen und die Preise steigen lassen. Ärmere würden besonders hart getroffen.

Ein besonderes Problem seien Arzneien, Lebensmittel und andere Waren mit kurzer Haltbarkeit, weil man keine Vorräte anlegen könne. „Yellowhammer“ warnt vor Protesten, die viele Polizisten binden, der Einbuße an öffentlicher Ordnung und Spannungen in Kommunen.

Kann die Regierung die absehbaren Massenproteste überleben?

Das provoziert zwei Fragen: Warum würde die Regierung so einen Notfall bewusst heraufbeschwören? Und könnte sie ihn überleben?

Hier scheiden sich Vernunft und machtpolitisches Kalkül. Boris Johnson weiß, was die Verantwortung gebietet: den No-Deal auszuschließen. Er weiß auch, dass die absehbar katastrophalen Folgen eines No-Deal sein politisches Todesurteil bedeuten können – jedenfalls, wenn er die Schuld nicht anderen in die Schuhe schieben kann, darunter einer angeblich uneinsichtigen EU, die Alternativen zum irischen Backstop rundweg ablehnte.

Doch BoJo ist ein Spieler, der hofft, dass jemand anders ihm die Verantwortung abnimmt, den No-Deal zu verhindern, zum Beispiel das Parlament in Kooperation mit der EU. Dann muss er sich nicht vorhalten lassen, er habe seine „Do or Die“-Zusage gebrochen, den Brexit Ende Oktober zu liefern. Vielmehr kann er bei Neuwahlen als Volkstribun vor die Wähler treten und sagen, er habe alles für den Brexit getan, aber die abgehobene Elite im Parlament habe ihn gehindert, den Volkswillen auszuführen.

Systemversagen: Der Oppositionsführer ist keine Alternative

Und selbst wenn BoJo massiv an Popularität verliert, weil das Oberste Gericht die von ihm verordnete Zwangspause für das Parlament für rechtswidrig erklärt oder weil der No-Deal-Brexit samt katastrophalen Folgen kommt und viele Wähler ihm die Schuld geben: Er dürfte immer noch hoffen, Neuwahlen zu gewinnen. Wie das? Weil die Alternative noch unbeliebter ist: Labour-Chef Jeremy Corbyn als Premier. Das wäre der „Worst Case“, sagen 43 Prozent der Briten in einer Umfrage vor wenigen Tagen. Schlimmer noch als ein No-Deal-Brexit. Den halten 35 Prozent für den „Worst Case“.
Das ist der andere Teil des Systemversagens: Wenn der Premier verrückt spielt, steht keine vernünftige Alternative bereit.

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