Brasilien steuert auf „Mega-Epidemie“ zu: Bolsonaro sabotiert den Kampf gegen Corona
Präsident Jair Bolsonaro hintertreibt alle Bemühungen, Corona in Brasilien einzudämmen. Dabei steigt die Totenzahl rasant – und das Alter der Infizierten sinkt.
Vor der Residenz des brasilianischen Präsidenten warten Dutzende Menschen auf ihr Idol. Sie jubeln, als Jair Bolsonaro aus dem Autos steigt. Weder er noch seine Bodyguards tragen Masken.
Auch viele seiner Fans halten das nicht für nötig. Stattdessen werden Hände geschüttelt und Selfies gemacht. Einige übermitteln Grüße aus ihren Heimatorten, man scherzt und lacht. Nichts deutet an diesem sonnigen Morgen in Brasília darauf hin, dass das Land gerade auf die kritischste Phase seit Beginn der Pandemie zusteuert. Experten warnen sogar vor einer verheerenden „Mega-Epidemie“ mit täglich mehr als 2000 Toten.
Nach der bisher tödlichsten Woche in der Pandemie hat Brasilien einen weiteren Höchstwert bei den an einem Tag erfassten Corona-Toten registriert. 1972 Menschen sind nach Daten des Gesundheitsministeriums in Brasília vom Dienstagabend (Ortszeit) innerhalb von 24 Stunden gestorben. Der bisherige Höchstwert lag am vergangenen Mittwoch bei 1910 Toten nach 1641 am Dienstag.
Die Situation ist damit schlimmer als je zuvor. Auch die Zahl der Infizierten steigt im globalen Vergleich überdurchschnittlich.
Seit Beginn der Pandemie hat Brasilien mehr als 268.000 Covid-19-Tote zu verzeichnen. Absolut gesehen hat das Land weltweit die zweithöchste Totenzahl nach den USA. Allerdings liegt die Todesrate pro einer Million Einwohner unter der vieler EU-Länder, etwa Belgien, Italien, Portugal und Spanien. Experten weisen jedoch darauf hin, dass viele arme Brasilianer sich nicht testen lassen und an Covid-19 sterben, ohne in die Statistik aufgenommen zu werden. Brasiliens Gesundheitssystem steht nun vor dem Kollaps
Landesweit melden Krankenhäuser, dass es keine Betten mehr auf den Intensivstationen gibt. Mancherorts wurden Wartelisten für schwere Covid-19-Fälle erstellt. Auffällig ist, dass die Patienten immer jünger und die Verläufe immer gravierender werden.
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Es würden zunehmend schwere Fälle im Alter zwischen 30 und 50 Jahren eingeliefert, meldete der Gesundheitssekretär des Bundesstaats São Paulo, Jean Gorinchteyn. Seine Erklärung: Die Jüngeren seien zu risikofreudig. Viele hätten das Verbot des Karnevals ignoriert und private Partys veranstaltet. Die Quittung bekomme man jetzt. „Die jungen Leute glauben, sie würden nur ihren Geruchssinn verlieren“, sagte er. „Aber dann sterben sie.“
Wie gering in Brasilien die Chance auf das Überleben bei einem schweren Verlauf ist, zeigt eine Studie des brasilianischen Verbands für Intensivmedizin. Demnach sterben auf den Intensivstationen mehr als 60 Prozent der eingelieferten Covid-19-Patienten.
Er provoziert und verzögert die Impfkampagne
Ein weiterer Grund für die verschlechterte Situation ist die Manaus-Variante des Virus, auch P.1. genannt. Die Mutation tauchte erstmals in der Amazonasregion auf und führte dort zu dramatischen Zuständen, weil in den Krankenhäusern der klinische Sauerstoff ausging. Viele Menschen erstickten.
Die Mutante ist so gefährlich, weil sie ansteckender ist und Infizierte eine höhere Virenlast aufweisen als beim bisherigen Virus. Die Manaus-Variante unterlaufe außerdem das Immunsystem von mindestens 25 Prozent der Menschen, die schon einmal an Covid-19 erkrankt waren und immun sein müssten, wie das Institut für Tropenmedizin der Universität São Paulo ermittelt hat.
Man sollte meinen, dass Brasiliens Präsident in dieser Situation alles tut, um das Virus zu bekämpfen. Das Gegenteil ist der Fall. Seit Beginn der Pandemie sabotiert Jair Bolsonaro die Anstrengungen von Gouverneuren und Bürgermeistern, das Virus einzudämmen.
Erst kürzlich hat er seine Anhänger dazu aufgerufen, sich nicht an Lockdowns zu halten. Er fragte: „Warum soll man zu Hause bleiben und heulen?“ Vor Fans sagte er, dass die Toten „nur bestimmte Leute“ interessierten, die ihm schaden wollten.
Wöchentlich reist Bolsonaro durchs Land und begibt sich ohne Maske unter Leute. Es wirkt, als mache es ihm Spaß, zu provozieren. Zusätzlich verzögert er die Impfkampagne. Seine Regierung lehnte verschiedene Angebote zur Lieferung großer Mengen an Impfstoff ab. Stattdessen wurde viel Geld zum Kauf unwirksamer Medikamente verwendet, die Bolsonaro bis heute anpreist, etwa Cloroquin.
Vor einer Impfung warnt er hingegen, seine Regierung übernähme keine Verantwortung, wenn Männer danach mit hoher Stimme sprächen oder Frauen ein Bart wüchse. Jüngst hat Bolsonaro sogar ein Veto gegen die Anträge verschiedener Bundesstaaten auf eine Schnellzulassung ausländischer Impfstoffe eingelegt. Dabei fehlen in Brasilien Impfstoffe, verschiedene Städte mussten die Impfungen bereits aussetzen.
Das alles ist umso tragischer, als Brasilien mal ein Vorbild für Impfkampagnen war. Es hat eins der größten kostenlosen Gesundheitssysteme der Welt, in jeder Gemeinde kann man sich unkompliziert gegen 20 Krankheiten impfen lassen. 2010 wurden in nur vier Monaten fast 90 Millionen Dosen der Schweinegrippe-Impfung verabreicht.
Heute aber wird Brasilien von einem Mann regiert, der eine teuflische Lust an der Zerstörung zu haben scheint. Die Worte eines Priesters sprachen daher vielen Menschen aus der Seele. In seiner Predigt in der kleinen Gemeinde Guarabira schimpfte Adalberto Tavares vor Kurzem, dass Bolsonaro „ein Mann ohne Moral“ sei. „Er ermordet das Volk!“