Deutschland will EU-Partnern nicht helfen: Bitte keine Fortsetzung der alten Krisenschlacht!
Der Streit um Coronabonds führt in die Irre. Ohne einen gemeinsam finanzierten Notfallfonds droht der Euro-Zone Spaltung und Niedergang. Eine Analyse.
Harald Schumann ist Redakteur beim Tagesspiegel und mit Paulo Pena und Jef Poortmans Mitglied des Journalistenteams Investigate Europe.
António Costa, Portugals Premierminister, gilt als der Sonnyboy der europäischen Politik. Selbst seinen Gegnern begegnet er stets mit einem freundlichen Lächeln, um die Türen für Verhandlungen offenzuhalten. Doch am vergangen Freitag ließ Costa alle Zurückhaltung fallen.
„Ekelhaft“ sei das gewesen, „kleinlich“ und „eine wirklich Gefahr für die Zukunft der EU“, wütete er vor laufenden Kameras gegen den niederländischen Finanzminister Wopke Hoekstra. Den Euro-Staaten und mit ihnen ganz Europa droht wegen des Stillstands zur Virusabwehr die schwerste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber inmitten des Ringens um eine gemeinsame europäische Gegenstrategie forderte der Niederländer, die EU-Kommission solle erst mal untersuchen, warum manche Länder besser mit den Corona-Folgen klarkämen als andere. Das war, schrieb die Tageszeitung „De Volkskrant“, „als ob er dem Süden den Stinkefinger gezeigt hätte“; und genauso hatte es Costa wohl auch verstanden.
Helfen, wo es gebraucht wird
Die Episode illustriert, mit welcher Härte Europas Regierungen dieser Tage um die richtige Antwort auf die drohende wirtschaftliche Katastrophe kämpfen, die dem medizinischen Notstand folgen wird, wenn dieser wie befürchtet lange anhält. Die Streitfront scheint allzu vertraut: Auf der einen Seite fordern die Regierenden der hart getroffenen Länder Italien und Spanien, dass die Euro-Zone gemeinsam einen Krisenfonds auflegt, aus dem die Gesundheitsversorgung und Konjunkturprogramme dort finanziert werden, wo der größte Bedarf ist. Das Geld dafür soll aus eigens aufgelegten gemeinsamen Anleihen kommen, Corona-Bonds genannt. Das soll verhindern, dass die höher verschuldeten Länder am Kapitalmarkt mit höheren Zinsen zusätzlich belastet und so am Wiederaufbau gehindert werden.
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Die Deutschen dagegen, und mit ihnen ihre Unterstützer aus Holland, Finnland und Österreich, weisen die Forderung strikt zurück, weil sie die Vergemeinschaftung von Staatsschulden grundsätzlich ablehnen. „Die Notwendigkeit, solche neuen Instrumente zu erfinden, gibt es im Augenblick nicht“, erklärte Bundesfinanzminister Olaf Scholz. „Die Solidarität innerhalb Europas“ lasse sich auch über Kredite herstellen, wie sie die Euro-Länder auch bisher schon mit ihrem „Europäischen Stabilitätsmechanismus“ (ESM) vergeben haben.
Fortsetzung der alten Krisenschlacht?
Das klingt, als ginge es nur um eine Fortsetzung der alten Krisenschlacht in Euro-Land, während derer die überschuldeten Länder mit Notkrediten bei harten Sparauflagen über Wasser gehalten wurden. Aber diese Position verkennt die dramatische Lage. Längst ist absehbar, dass die Rezession infolge des erzwungenen Stillstands weit mehr Mittel erfordert, als über den ESM bereitstehen. Die Krisenbank der Euro-Staaten kann an die Mitgliedsländer Kredite in Höhe von bis zu zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung vergeben, insgesamt 240 Milliarden Euro. Gebraucht wird aber aller Voraussicht nach ein Vielfaches dieser Summe. Deutschlands Wirtschaftsweise erwarten selbst nach nur sieben Wochen Stillstand schon einen Einbruch von rund fünf Prozent. Sollte sich der jetzige Zustand jedoch drei Monate hinziehen, könnte sich das auf bis zu 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausweiten, kalkulierte das deutsche ifo-Institut. In vielen anderen EU-Staaten wird es mangels Reserven eher schlimmer. Kommt es dazu, dann werden weit über eine Billion Euro gebraucht, um den Kollaps zu verhindern.
Geld aus dem ESM lässt die Schulden wachsen
Zudem hat der ESM einen grundsätzlichen Mangel: Er kann seine Mittel nur als Kredite ausreichen, mit denen die jeweilige nationale Schuldenlast wächst. Nach dem Ende der Epidemie würde das die höher verschuldeten Länder erneut ausbremsen, und die Euro-Zone würde den gleichen Fehler wiederholen, der Europa auch schon 2012 in eine zweite Rezession nach dem Crash von 2008 getrieben hat. Für die Regierungen Italiens und Spaniens sind ESM-Kredite darum ein giftiges Angebot, das sie ablehnen.
Diese bedrohliche Konstellation hat sowohl unter den Ökonomen als auch unter den Euro-Staaten eine einzigartige Allianz gestiftet. Über alle ideologischen Lager hinweg appellierten die Fachleute an die EU-Regierungen, ihren alten Streit aufzugeben und umgehend ein gemeinsames Schuldeninstrument aufzulegen, um die heraufziehende wirtschaftliche Katastrophe abzuwenden, darunter auch die Chef-Ökonomin der OECD, Laurence Boon, und die Chefin der EZB, Christine Lagarde. Gleichzeitig versicherte der EZB-Vorstand, notfalls auch ohne die bisher geltenden Limits die Staatsanleihen der Euro-Länder zu kaufen. Im Notfall liefe das aber darauf hinaus, dass die EZB de facto so wie die US-Zentralbank Federal Reserve eine direkte Staatsfinanzierung betreiben und ihr Statut brechen würde. Zudem käme die Intervention womöglich zu spät, um große Schäden wie eine Welle von Unternehmenspleiten abzuwenden.
Natürlich könne es sein, dass Deutschland mehr einzahle...
Darum gilt es, die Rettung der Euro-Zone nicht wieder der EZB zu überlassen. In Deutschland taten sich dafür so unterschiedliche Ökonomen wie Michael Hüther, der Chef des Wirtschaftsinstituts der Arbeitgeber, der marktliberale ifo-Direktor Clemens Fuest und der Leiter des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie, Sebastian Dullien, mit dem Bonner Finanzmarkt-Experten Moritz Schularick zusammen und forderten, „die Länder der Euro-Zone sollten begrenzt auf diese Krise Gemeinschaftsanleihen in Höhe von 1000 Milliarden Euro emittieren“, entsprechend rund acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Euro-Zone.
Geeint kann sich die Währungsunion das problemlos leisten. Die Staatsverschuldung der Euro-Zone beträgt nur 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, während die USA, China und Japan weit darüberliegen. Entscheidend sei, „jetzt die Bereitschaft zum gemeinsamen Handeln klar zu signalisieren“, um bei Unternehmen und Anlegern die Erwartung zu steuern, dass der Aufschwung nach der Epidemie machbar ist, erklärt Schularick. Natürlich könne es sein, dass Deutschland am Ende mehr in den Fonds einzahlen müsse, als es erhalte, so wie es jetzt auch bei der EU-Regionalförderung laufe. Aber nur so lasse sich die drohende Spaltung der Euro-Zone aufhalten.
Es geht um einen "Notfallfonds"
Wie groß diese Gefahr ist, zeigt sich schon jetzt. Alle Garantien mit eingerechnet stellte die Bundesregierung eine Summe in Höhe von 32 Prozent der Wirtschaftsleistung in Aussicht, um keine Zweifel an ihrer Handlungsfähigkeit aufkommen zu lassen. Die Regierungen in Rom und Madrid dagegen haben bisher aus Furcht vor dem möglichen Zinsschock lediglich Mittel von zehn Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts zur Krisenbekämpfung bereitgestellt. „Was in Deutschland richtig ist, sollten wir auch anderen Euro-Ländern ermöglichen“, fordert Schularick. Gleichzeitig versichern er und seine Mitstreiter aber, „dass es sich um einen Notfallfonds zur Krisenbewältigung handelt, also um eine einmalige Maßnahme, wie bei der Gemeinschaftsanleihe [der damaligen Europäischen Gemeinschaft] aus der Zeit der Ölkrise“.
Anders als von Deutschlands Konservativen befürchtet geht es also nicht um den Einstieg in die allgemeine Vergemeinschaftung der Staatsschulden in Euro-Land. Dem hatte das Bundesverfassungsgericht schon 2011 einen Riegel vorgeschoben und erklärt, dass sich die Bundesrepublik „keinem unüberschaubaren, nicht mehr steuerbaren Mechanismus einer Haftungsgemeinschaft“ unterwerfen darf. Das wäre bei einer einmaligen, begrenzten Summe für den Krisenfonds aber auch nicht der Fall. „Warum sollte der Bundestag Haftung für 750 Milliarden gegenüber der KfW-Bank eingehen dürfen, aber nicht für die EU-Partner?“, hält IMK-Ökonom Dullien den Kritikern entgegen.
13 der 19 EU-Staaten sind dafür
Inzwischen haben sich denn auch schon 13 der 19 Euro-Staaten für den Krisenfonds ausgesprochen, bestätigte ein Beamter der Euro-Gruppe dem Journalistenteam Investigate Europe. Darunter sind auch Luxemburg, Slowenien, Belgien und Irland, die früher stets gegen Eurobonds votierten. „Wir fordern nicht die Vergemeinschaftung der öffentlichen Altschulden, sondern einen Rettungsplan, der von den europäischen Institutionen verwaltet wird“, versicherten auch die Großstadtbürgermeister und Regionalpräsidenten Norditaliens in einem offenen Brief an die „lieben deutschen Freunde“. Nur wenn die Euro-Zone gemeinsam handele, könne sie „im Wettbewerb mit den USA und China“ bestehen, mahnte Ministerpräsident Giuseppe Conte im ARD-Interview.
All das lässt die deutsche Kanzlerin bisher kalt. Eisern halten Angela Merkel und ihre Partei am Veto gegen die Corona-Bonds fest. Aber damit könnten sie bald schon allein in Europa stehen. In den Niederlanden zeigt der europaweite Druck schon Wirkung. Zwei der vier Koalitionsparteien von Ministerpräsident Rutte rebellieren gegen den bisherigen Kurs. Rob Jutten, der junge Anführer der sozialliberalen Partei „Demokraten66“ distanzierte sich demonstrativ und erklärte: „Wenn wir den Ländern des Südens jetzt nicht helfen, wird es für niederländische Unternehmer nach der Krise nur wenige Möglichkeiten geben.“
Euro-Land könnte so stärker werden
Auch Gert-Jan Segers, Vorsitzender der kleinen konservativen Partei Christliche Union, forderte einen neuen „Marshallplan für Südeuropa“, genauso wie 60 Ökonomen des Landes. Selbst Minister Hoekstra, der Hardliner, zeigte Reue und räumte ein: „Wir waren nicht einfühlsam genug, so ehrlich müssen wir sein.“ Solche Töne gab es in der Euro-Gruppe noch nie. So wachsen die Chancen, dass die Europäer sich am Ende doch gemeinsam und rechtzeitig dem kommenden Tsunami entgegenstemmen. Käme es dazu, wäre Euro-Land anschließend stärker als je zuvor.
- Investigate Europe recherchiert EU-Themen und veröffentlicht die Ergebnisse europaweit. Das Projekt wird von der Schöpflin-Stiftung, der Rudolf-Augstein-Stiftung, der Hübner & Kennedy-Stiftung, der norwegischen Fritt-Ord- Stiftung, der Open Society Initiative for Europe, der portugiesischen Gulbenkian Foundation, der italienischen Cariplo-Stiftung und privaten Spendern unterstützt.