zum Hauptinhalt
Bisher ist das soziale Jahr freiwillig.
© Foto :Friso Gentsch /dpa

Debatte über neuen Pflichtdienst: Bethel fordert soziales Jahr für alle

Chef von Europas größtem Wohlfahrtsunternehmen sieht in Dienstpflicht für junge Erwachsene Chance für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Der Vorstandsvorsitzende der von Bodelschwingh’schen Stiftungen Bethel, Ulrich Pohl, befeuert mit einer sozialpolitischen Forderung den Wahlkampf. Zum 150. Bethel-Jubiläum plädiert Pohl dafür, ein allgemeines, verpflichtendes soziales Jahr für junge Erwachsene einzuführen. In den Familien und der Schule würden heute nur noch selten soziale Kompetenzen vermittelt, sagte Pohl dem Tagesspiegel. „Anerkennung findet, wer schnell seine Ausbildung abschließt.“ Wirtschaftsvertreter beklagten aber zunehmend, dass Bewerbern soziale Fähigkeiten fehlten. „Und wir sollten uns auch fragen, wie sich das auf unsere Gesellschaft auswirkt.“
Die von Bodelschwingh’schen Stiftungen Bethel mit Zentrale in Bielefeld sind mit 18.000 Mitarbeitern das größte Sozialunternehmen in Europa. Bethel ist eine diakonische Einrichtung, in der Menschen mit Behinderung, psychischen Beeinträchtigungen, Epilepsie, alte und pflegebedürftige Menschen, kranke Menschen, Jugendliche mit sozialen Problemen und Wohnungslose betreut werden.

Pastor Ulrich Pohl ist Vorstandsvorsitzender der Bodelschwingh'schen Stiftungen Bethel. Die Stiftungen gelten als größte Diakonische Einrichtung Europas.
Pastor Ulrich Pohl ist Vorstandsvorsitzender der Bodelschwingh'schen Stiftungen Bethel. Die Stiftungen gelten als größte Diakonische Einrichtung Europas.
© Oliver Krato/dpa

Auf Dauer sieht Pohl den Zusammenhalt in Deutschland gefährdet, auch, weil „viele kommende Leistungsträger nie mit sozialen Problemen konfrontiert worden sind“. Schon jetzt werde das gesellschaftliche Klima trotz der guten wirtschaftlichen Situation schlechter, der politische Diskurs immer rauer. „Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass viele Menschen unter sozialen Unsicherheiten leiden“, sagte Pohl. Bis zu 20 Prozent der Kinder in Deutschland wüchsen in einem schwierigen Umfeld auf, im Ruhrgebiet und anderswo gebe es ganze Regionen, die sich von der positiven Wirtschaftsentwicklung abgehängt fühlten. Das beste Mittel, um den sozialen Frieden zu erhalten, sei Solidarität, so Pohl weiter. „Ein Pflichtdienst in sozialen Einrichtungen kann als Kit für die Gesellschaft dienen.“ Der kirchliche Stiftungsverbund Bethel untermauert seine Forderung mit Ergebnissen einer Umfrage des Instituts TNS Infratest. Danach sprachen sich 75 Prozent der Befragten für ein allgemeines soziales Jahr aus. Selbst unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die von einem Pflichtjahr direkt betroffen wären, lag die Zustimmung noch bei 60 Prozent. Ehemalige Zivildienstleistende gaben zudem mehrheitlich an, dass sie ihren Dienst als Bereicherung für ihr Leben und förderlich für ihre Persönlichkeitsentwicklung empfunden hätten. Knapp 90 Prozent der Ex-Zivis würden Jugendlichen daher ein soziales Jahr empfehlen.

Grundgesetzänderung erforderlich

Für eine Umsetzung der Forderung nach einem verpflichtenden Sozialdienst wäre nach Auffassung Pohls eine Grundgesetzänderung notwendig. „Wenn die Politik das Thema aufgreift, könnten die Voraussetzungen für den Dienst in fünf Jahren geschaffen sein“, sagte er. Die Kosten schätzt er auf mindestens zehn Milliarden Euro jährlich – nicht zu viel für eine „systemrelevante“ Aufgabe, wie er findet. Langfristig wünscht sich Pohl eine Initiative für ein europaweites soziales Jahr. „Junge Deutsche könnten dann etwa auch in Griechenland oder Spanien ihren Dienst ableisten und würden die Probleme dieser Länder aus einer ganz anderen Perspektive kennenlernen.“
Dass er sich mit seinem Vorstoß dem Verdacht aussetzt, sozialen Einrichtungen billige Arbeitskräfte als Ersatz für die mit dem Aussetzen des Wehrdienstes ebenfalls ausbleibenden Zivildienstleistenden zu sichern, lässt Pohl nicht gelten. Es gebe genug junge Erwachsene, die ein freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr absolvierten, und die Zivildienstleistenden damit mehr als ersetzten. „Allein bei uns melden sich auf 500 Stellen bis zu 1500 Bewerber.“ Dass junge Erwachsene durch einen Pflichtdienst erst ein Jahr später in die Berufsausbildung einsteigen könnten, hat als Argument für Pohl ebenfalls wenig Gewicht. „Eine weitaus größere Gefahr für unsere Gesellschaft wäre, wenn uns die soziale Kompetenz abhandenkommt.“

Ulrike Scheffer

Zur Startseite