Engagement für die Gesellschaft: Koalitionspolitiker gegen soziales Pflichtjahr
Der Chef von Europas größtem Sozialunternehmen dringt auf ein soziales Pflichtjahr. CDU und SPD sind dagegen.
Die Forderung nach einem sozialen Pflichtjahr für junge Männer und Frauen findet in der regierenden Koalition wenig Zustimmung. Der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Karl Schiewerling, sagte dem Tagesspiegel: "An sich finde ich die Idee eines sozialen Pflichtjahres reizvoll. Ein solcher Dienst wäre zweifellos eine wichtige Erfahrung für junge Menschen, und er würde den Zusammenhalt unserer Gesellschaft stärken." Organisatorisch sei ein solches Projekt aber schlicht nicht durchführbar, ergänzte der CDU-Politiker. "Wenn wir einen kompletten Jahrgang mit Stellen in Sozialeinrichtungen versorgen müssten, bräuchten wir entsprechende Strukturen: Eine Behörde, ein Versicherungssystem und vieles mehr." Ähnlich wie früher bei der Musterung zum Wehrdienst müsste zudem geprüft werden, wer möglicherweise von dem Dienst befreit werden müsse. "Und hätten wir überhaupt genug Kapazitäten, um alle jungen Frauen und Männer unterzubringen? Da sind wir schnell wieder bei der Frage der Gerechtigkeit."
Schiewerling gab außerdem zu bedenken, dass sich viele Jugendliche bereits sozial engagierten. "Ob bei der Feuerwehr, dem Roten Kreuz, dem THW, bei den Pfadfindern oder anderswo, tausende junge Menschen setzen sich ehrenamtlich für die Gemeinschaft ein. Das sollte nicht vergessen werden."
Bethel-Vorstand für soziales Pflichtjahr
Die Forderung nach einem Pflichtdienst stammt vom Vorstandsvorsitzenden der von Bodelschwingh’schen Stiftungen Bethel, Ulrich Pohl. Der Stiftungsverbund, der vor allem Behinderten- und Senioreneinrichtungen betreibt, ist mit 18.000 Mitarbeitern das größte Sozialunternehmen in Europa. Laut einer Umfrage des Instituts TNS Infratest unterstützen rund 75 Prozent der Deutschen den Vorstoß. Pohl sieht den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland in Gefahr, weil „viele kommende Leistungsträger nie mit sozialen Problemen konfrontiert worden sind“, wie er dem Tagesspiegel sagte. Schon jetzt werde das gesellschaftliche Klima trotz der guten wirtschaftlichen Situation schlechter, der politische Diskurs immer rauer. Das beste Mittel, um den sozialen Frieden zu erhalten, sei Solidarität, so Pohl weiter. „Ein Pflichtdienst in sozialen Einrichtungen kann als Kit für die Gesellschaft dienen.“ Die Kosten schätzt er auf mindestens zehn Milliarden Euro jährlich.
SPD warnt vor Entprofessionalisierung von Pflege und Betreuung
Die SPD kritisierte den Vorschlag Pohls allerdings scharf. "Das müssen wir gar nicht erst diskutieren, denn die Forderung ist rückwärtsgewandt und auch überflüssig", sagte die SPD-Familien- und Sozialpolitikerin Svenja Stadler dem Tagesspiegel. Sie verwies darauf, dass sehr viele junge Männer und Frauen bereits freiwillig ein soziales Jahr ableisteten. "Es gibt weit mehr Bewerber als Plätze." Es sei daher nicht erforderlich, dies zur Pflicht zu machen. Auch könne sie nicht erkennen, dass Jugendliche nicht bereit seien, sich für die Gesellschaft zu engagieren. Die Schell-Jugendstudie habe ergeben, dass 40 Prozent der jungen Leute dazu durchaus bereit seien, so Stadler. "Statt Forderungen nach einem Pflichtjahr aufzustellen, sollten wir uns lieber fragen, welche Hindernisse einem solchen Engagement entgegenstehen." Aus Sicht der SPD-Politikerin sind das vor allem verkürzte Schul- und Studienzeiten.
Ein Pflichtjahr für alle Jugendlichen könnte nach Ansicht Stadlers eine "Entprofessionalisierung" im Pflege- und Betreuungsbereich nach sich ziehen, weil Fachkräfte durch Sozialdienstleistende ersetzt würden. "Die Qualität von Pflege und Betreuung würde dadurch massiv leiden."
Ulrike Scheffer
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