Israels erster Premier: „Ben Gurion wollte einen jüdischen Staat – um jeden Preis“
Der Historiker Tom Segev spricht über Israels Gründervater Ben Gurion, dessen Vorbehalte gegenüber den Arabern – und warum er die palästinensische Tragödie in Kauf nahm.
Herr Segev, Sie haben sich als Biograf lange Zeit mit David Ben Gurion beschäftigt. Wie hat sich Ihr Bild von Israels Staatsgründer und ersten Ministerpräsidenten verändert?
Ben Gurion war über viele Jahre hinweg ein nationaler Mythos, eine Art Säulenheiliger. Er stand über aller Kritik. Ich versuche, ihn als Menschen zu zeigen, mit all seinen Stärken und Schwächen. Ben Gurion galt immer als emotionsloser Pragmatiker. Aber er hat sich sehr von seinen Gefühlen leiten lassen, kämpfte immer wieder mit schweren persönlichen Krisen. Und dem war er sich bewusst. Wenn man das weiß, ist auch besser zu verstehen, warum und wie er bestimmte Entscheidungen fällte.
Ben Gurion wird bis heute als Held des jüdischen Staats verehrt. Taugt er dazu?
Ja, schon. Er war eine faszinierende Figur und ist heute sogar besonders populär. Dafür gibt es einen einfachen Grund: David Ben Gurion war ein integrer Staatsmann - was ihn vom heutigen Premier Benjamin Netanjahu unterscheidet. Der ist zwar auch durchaus beliebt, gilt jedoch nicht unbedingt als ehrenhaft. Er hat ja mit einigen Korruptionsaffären zu kämpfen. Ben Gurion hat sich schon als Jugendlicher fest vorgenommen, das Schicksal des jüdischen Volks zu verändern. Das ist ihm gelungen.
Inwiefern?
Die Gründung Israels 1948 muss man als Tat eines großen Staatsmanns sehen. Er hat sich übrigens gerne mit Lenin verglichen, der ja auch den Weg des russischen Volkes in eine neue Richtung lenken wollte.
Ein Biograf hat David Ben Gurion noch zu dessen Lebzeiten als größtes Unheil bezeichnet, das Israel widerfahren ist. Ein Fehlurteil?
Ben Gurion war immer eine umstrittene Figur. Bei Wahlen hat er nie mehr als ein Drittel der Stimmen erhalten. Seine Entscheidungen sind ebenfalls oft harsch kritisiert worden. Zum Beispiel wurde ihm vorgeworfen, zu nachgiebig gegenüber den Forderungen der Orthodoxie zu sein. Doch man muss wissen: Ben Gurion war innenpolitisch ein Anhänger des Kompromisses. Das zeigte sich bei den ersten Kommunalwahlen in Palästina 1920.
Was ist damals passiert?
Jerusalems orthodoxe Gemeinde boykottierte die Abstimmung, weil Frauen zugelassen wurden. Ben Gurion wiederum war als Sozialist ein Befürworter des Frauenwahlrechts. Und was ist am Ende passiert? Man einigte sich darauf, dass Frauen mitmachen durften. Aber da orthodoxe Frauen dennoch der Wahl fernblieben, zählten die Stimmen ihrer Männer doppelt. Man mag darüber lachen. Aber genauso ist es gewesen.
Was hat Ben Gurion als Politiker angetrieben?
Kein Zweifel, der Zionismus. Und das von Anfang an. Ich habe ihn mal als junger Mann zusammen mit zwei anderen Studenten interviewt. Und Ben Gurion erzählte uns allen Ernstes, er sei schon als Dreijähriger Zionist gewesen. Auf die Nachfrage „Mit drei Jahren?“, antwortete der damals 83-Jährige: Ja! Zionismus war mit Sicherheit das Zentrum seiner Persönlichkeit, der Kern seiner Identität. Meine Biografie trägt aus gutem Grund den Untertitel „Ein Staat um jeden Preis“. Ben Gurion war wirklich bereit, für einen jüdischen Staat, für Israel einen hohen Preis zu bezahlen.
Was heißt ein hoher Preis?
Schon 1919 hat er in aller Öffentlichkeit gesagt: Der Konflikt zwischen Juden und Arabern in Palästina ist nicht zu lösen. Frieden mit den Palästinensern könne es nicht geben, weil kein Volk der Welt für ein anderes sein Land freiwillig aufgibt. Ben Gurion war daher Zeit seines Lebens überzeugt, dass der Konflikt zu managen ist. Daraus schlussfolgerte er, einen jüdischen Staat könne es in Palästina geben – aber weitgehend ohne Araber. Schon frühzeitig sprach er davon, dass die Palästinenser „transferiert“ werden müssten. Im Klartext heißt das: Sie sollten vertrieben werden.
Das klingt nicht geraden nach einem, für den Frieden oberste Priorität besitzt.
Das stimmt. Ben Gurion nahm in Kauf, dass das Leben in dem zu gründenden Staat eines ohne Frieden sein würde. Und er hat damit auch die palästinensische Tragödie in Kauf genommen. 1947/48 ist genau das mit dem Unabhängigkeitskrieg und der Staatsgründung zum Tragen gekommen. Ziemlich gleichgültig war ihm zudem die Lage jener Juden, die zu dieser Zeit einwanderten. Die lebten wirklich unter katastrophalen Bedingungen. Für sie gab es weder Schulen noch Häuser oder Arbeit.
Wie das?
Ben Gurion ging es in erster Linie darum, dass Juden nach Israel kommen. Er brauchte sie als Gegengewicht zu den Arabern.
Frieden mit Arabern ist unmöglich, der Konflikt mit den Palästinensern lässt sich managen – derartige Sätze hört man auch von Mitgliedern der derzeitigen Regierung. Gibt es da Parallelen?
Ja, dieser Eindruck drängt sich auf. Weder die meisten Israelis noch die Mehrheit der Palästinenser glauben noch an eine Zweistaatenlösung. Nur: Keiner weiß, was an deren Stelle treten könnte.
War Ben Gurion ein Befürworter der Zweistaatenlösung?
Er hat zumindest nach der Vertreibung der Araber 1948 nicht daran gedacht, Jerusalem, das Westjordanland und Gaza zu erobern. Dort lebten ja die vielen Flüchtlinge. Warum also dort herrschen? Als Israel dann im Sechstagekrieg 1967 diese Gebiete besetzte, hielt Ben Gurion davon wenig. Er bangte um die jüdische Identität des Staates Israel.
Und wie ist es heute um die Identität Israels bestellt?
Zunächst einmal: Trotz allem ist Israel seit seiner Gründung vor 70 Jahren eine unfassbare, ja, dramatische Erfolgsgeschichte. Heute geht es den Israelis deutlich besser als vielen Menschen auf der Welt. Die Demokratie funktioniert recht ordentlich. Aber um die Zukunft mache ich mir Sorgen. Die Palästinenser haben ihre Heimat nicht vergessen. Das hatte Ben Gurion noch gehofft. Heute stehen wir daher vor einem Problem, das wir nicht lösen können. Vielleicht gibt es deshalb sogar wieder einen großen Krieg mit den Palästinensern.
Ist das die größte Bedrohung für Israel?
Nein. Ich glaube, dass Israel mit den militärischen Bedrohungen umgehen kann. Gefährlicher sind die ständigen Angriffe von innen auf unsere Demokratie und deren Institutionen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt steht auf dem Spiel. Rassismus breitet sich ebenfalls aus. Das schließt die Unterdrückung der Palästinenser ein. Seit 50 Jahren werden deren Menschenrechte durch die Besatzung verletzt.
Hätte das auch Ben Gurion umgetrieben?
Die Interessen des Staates hatten für ihn immer oberste Priorität. Die arabische Bevölkerung in Israel lebte zu seiner Zeit unter einem Militärregime. Sie waren keine gleichberechtigten Bürger. Frieden, Sozialismus, Demokratie, Recht, Wahrheit – Ben Gurion war bereit, davon Abstriche zu machen, wenn ihn das die Verwirklichung seines zionistischen Traumes näherbrachte. Das war seine Auffassung von nationaler Führung.
Das Gespräch führte Christian Böhme.
Von Tom Segev ist soeben im Münchener Siedler Verlag die Biografie „David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis“ erschienen.