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Ein Verletzter vor einem teilweise zerstörten Restaurant im Stadtteil Mar Mikhael nach der Explosion im Hafen.
© Patrick Baz/AFP

Ode an die libanesische Hauptstadt: Beirut - Sehnsuchtsort für Freigeister und Schauplatz von Tragödien

Die Wirtschaft war schon implodiert, als der Hafen explodierte. Beide Katastrophen sind hausgemacht. Der Staat als Beute funktioniert nicht. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Nüsse

Die Ode der libanesischen Sängerin Fairuz an die Stadt Beirut kommt einem sofort in den Sinn: „Ich sende einen Gruß meines Herzens nach Beirut“. Und: „Du bist Wein aus der Seele des Volkes, Brot und Jasmin aus dem Schweiß des Volkes. Wie wurde dein Geschmack nur zu dem von Feuer und Rauch?“ Das Lied brachte die libanesische Ikone 1984 mitten im Bürgerkrieg heraus – es wurde zur Anklage gegen die Kriegsparteien.

Heute trauern die Stadt, der Libanon und die über die Welt verstreuten Menschen libanesischer Herkunft um eine andere menschengemachte Katastrophe. Eine Stadt, die ihr Antlitz und viele Bürger verloren hat. Eine Stadt, die in der arabischen Welt immer ein Sehnsuchtsort für Freigeister gewesen ist. Freier und bunter als andere Orte, mit einer langen Tradition von Pressefreiheit und kultureller Kreativität.

Und auch der Glamour gehörte immer zu Beirut: Die Reichen fuhren Jetski im Mittelmeer und am Wochenende Ski in den Bergen. Das Land hat internationale Modemacher wie Elie Saab oder Georges Chakra hervorgebracht, die Halle Berry bei den Oscars einkleiden oder Kostüme für US-Filme wie „Der Teufel trägt Prada“ kreieren.

Doch Tragik und Glamour liegen im Libanon nah beieinander. Einmischung der „Schutzmächte“ der verschiedenen konfessionellen Gruppen, Bürgerkrieg, Einnahme Beiruts durch israelische Truppen und anschließende Besatzung eines Teil des Südlibanon, syrischer Einmarsch und Truppenpräsenz, aus der eine de-facto-Herrschaft wurde – so geht die jüngere politische Geschichte.

Aber Libanon war in einer volatilen Region auch Hafen für palästinensische Flüchtlinge samt PLO und später für syrische.

Die Resilienz der Libanesen ist legendär

Die Resilienz der Bewohner des Libanon hat ihnen weltweit Bewunderung eingebracht. Doch sie hat auch dazu geführt, dass der Libanon seine Chance zur politischen Reform nach dem Abzug der letzten ausländischen Macht 2005 nicht genutzt hat.

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Das fragile politische System, das auf einem konfessionellen Proporz basiert, blieb bestehen. Nicht ein Diktator, sondern einige Clans, die sich die staatlichen Institutionen und deren Budgets untereinander aufteilen.

Das Ergebnis: Selbst Basisleistungen eines Staates wie die Elektrizitätsversorgung funktionieren nicht. Die Bergungsarbeiten konnten in der Nacht nach der Explosion kaum weitergehen, weil es keinen Strom und damit kein Licht gab.

Am Tag der Explosion versuchen Demonstranten, das Energieministerium zu stürmen, weil es nur noch zwei Stunden täglich Strom gab.
Am Tag der Explosion versuchen Demonstranten, das Energieministerium zu stürmen, weil es nur noch zwei Stunden täglich Strom gab.
© AFP

Auch die Massendemonstrationen junger Libanesen 2019 konnten daran nicht rütteln. Ihre revolutionären Slogans von der „libanité“, also einer konfessionsübergreifenden Bürgeridentität, wurden von den ehemaligen Warlords, die jetzt in politischen Ämtern weilen, nicht erhört.

Die waghalsige Politik der Zentralbank, die immer neue Kredite zu überhöhten Zinsen aufnahm, um alte Schulden zu begleichen, brach zusammen. Der Staat und Libanons Wirtschaft waren bereits implodiert, als die Warenlager im Hafen explodierten.

Statt Verantwortung zu übernehmen, wird die HIlfe des IMF abgelehnt

Beirut ist jetzt wohl Opfer genau jener Abwesenheit von staatlichem Handeln, Kontrolle und Diensten am Bürger geworden. Wie sonst lässt sich erklären, dass Tonnen von Chemikalien unzureichend gesichert seit Jahren im Hafen lagern? Daher könnte die Lage nach der Katastrophe noch explosiver werden, wenn keine Schuldigen ermittelt werden.

So wie bei den Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfond, in denen die libanesischen Akteure um jeden Preis verhindern wollen, dass Transparenz einzieht und Verantwortliche für das Finanzdesaster benannt werden – lieber schicken sie den IMF mit seinen Milliarden nach Washington zurück.

Die jetzigen Katastrophen in Libanon sind hausgemacht. Die Wut, die nach der Trauer kommt, könnte aus dem Ruder laufen, konfessionell instrumentalisiert werden und Einmischung von außen anziehen. Die Welt hat ihre Hilfe in Gang gesetzt. Sie soll großzügig sein. Aber mittelfristig kann die Welt die Libanesen nicht vor ihren eigenen verantwortungslosen politischen Eliten beschützen.

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