Russland-Embargo: Bei Sanktionen zählt ein langer Atem
Die Ost-Ministerpräsidenten haben schlechte Argumente für die Lockerung der Russland-Sanktionen. Denn das Embargo hat Putins Vormarsch gestoppt. Ein Kommentar.
Das Ausmaß an Wankelmut, Vergessenwollen und Widersprüchen in manchen politischen Argumentationen ist bemerkenswert. Zum Beispiel in der Debatte um die Russlandsanktionen. Sie hätten angeblich nichts gebracht, sagen die Befürworter einer Lockerung. Sie schadeten der Wirtschaft, besonders in den neuen Bundesländern. Überhaupt hätten die Ossis ein anderes Verhältnis zu den Russen als die Wessis, behauptet Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU).
Vieles davon hält der Überprüfung nicht stand. Die Ostdeutschen haben kein dezidiert freundlicheres Verhältnis zu Russland, sagt Hermann Blinkert vom Meinungsforschungsinstitut Insa. Es gebe zwar Unterschiede zwischen Ost und West in den Umfragen, sie bewegen sich aber in einem niedrigen Prozentbereich. Innig war das Verhältnis zwischen DDR- und Sowjetbürgern ja nie. Sie bildeten eine Leidensgemeinschaft. Die Ostdeutschen waren froh, als die Russen endlich abzogen. Zurück haben möchte sie niemand. Ab und zu finden sich beide im Gefühl wieder, dass der Westen sie von oben herab behandele. Viel weiter geht die Gemeinsamkeit nicht.
Auch die Eintracht der ostdeutschen Politik reicht nicht weit. Die Ministerpräsidenten Kretschmer (Sachsen, CDU), Bodo Ramelow (Thüringen, Die Linke), Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern, SPD) und Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt, CDU) sprechen sich heute wie auch schon vor einem Jahr für eine Lockerung der Sanktionen aus. Und manche West-Kollegen schließen sich an wie Stephan Weil (Niedersachsen, SPD) und Armin Laschet (Nordrhein-Westfalen, CDU).
Die Wirtschaftsminister Thüringens und Sachsen-Anhalts, Wolfgang Tiefensee und Armin Willingmann (beide SPD), hingegen sowie Sachsen-Anhalts vormaliger Ministerpräsident Christoph Bergner (CDU) sind anderer Meinung.
Sie warnen davor, die geschlossene Haltung des Westens zu unterminieren. Zehntausende sind durch die russische Aggression gegen die Ukraine ums Leben gekommen. Erst wenn die Befriedung Fortschritte mache, könne man über eine Lockerung nachdenken.
Der Schaden für die Ostwirtschaft hält sich in Grenzen
Schaden die Sanktionen der ostdeutschen Wirtschaft? Einzelnen Betrieben ja. Im volkswirtschaftlichen Maßstab nicht. Insgesamt sei der Wirtschaftsaustausch der neuen Länder und Russland nicht unter dem Niveau von 2014, dem Jahr, in dem der Ukrainekrieg und die Sanktionen begannen, betont der Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft – im Gegensatz zu den beständig lamentierenden Kollegen vom Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft.
Überhaupt: An welchen Maßstäben orientiert sich die Behauptung, Sanktionen brächten nichts? Hatte jemand ernsthaft erwartet, Putin werde erschrocken die Krim freigeben und seine Hilfstruppen aus der Ostukraine im Stich lassen? Oder darf man von „Wirkung“ erst reden, wenn die russische Wirtschaft vor dem Zusammenbruch steht? Das war doch gar nicht das Ziel 2014. Der Westen wollte ein Zeichen setzen mit „Smart Sanctions“. Russland hatte die Krim besetzt und annektiert, die erste gewaltsame Grenzveränderung in Europa seit 1945. Putin zettelte einen Krieg in der Ostukraine an. Die von ihm bewaffneten Milizen schossen ein Passagierflugzeug mit einer russischen Rakete ab, 298 Tote. Sie leugneten aber die Verantwortung und hantierten respektlos mit den Leichen.
Auf diese Entwicklung reagierte der Westen mit gezielten Sanktionen: Reiseverbote für Verantwortliche in Moskau, Sperrung ihres Zugriffs auf westliche Konten, generelle Einschränkung des Finanzaustauschs, Verbot der Lieferung von Waffen und Dual-Use-Gütern, die sich zivil wie militärisch nutzen lassen. Man wollte gerade nicht die russische Volkswirtschaft und die Bevölkerung in voller Breite treffen, sondern nur die Führungsclique.
Putin antwortete mit einem Importverbot für landwirtschaftliche Güter aus der EU: Käse aus Bayern, Äpfel aus Polen, Tomaten aus den Niederlanden. Sie sind Augenwischerei und werden zum Teil umgangen, zum Beispiel wurden jahrelang polnische Äpfel nach Weißrussland gebracht und dort umetikettiert. Und in manchen Bereichen hat der Mangel Russland gezwungen, die fehlenden Importe durch mehr Eigenproduktion auszugleichen. In der Milchwirtschaft ist ein ausgewanderter deutscher Bauer sein Retter.
Wenn Sanktionen nicht wirken, muss man sie verschärfen, nicht lockern
Wer ernsthaft besorgt ist, dass die Sanktionen nicht wirkungsvoll genug sind, müsste eigentlich eine Verschärfung fordern und nicht eine Lockerung. Der Westen könnte, wenn er wollte, den russischen Zugang zu internationalen Zahlungssystemen sperren. Er könnte der Ukraine Waffen liefern, damit sie sich wirkungsvoller gegen die Angreifer verteidigen kann. Beides wäre wirkungsvoll, würde aber eine Eskalation bedeuten. Die will der Westen vermeiden.
So hat man es ja auch jahrhundertelang in der Medizin gemacht: Ein kranker Patient wurde zur Ader gelassen, damit das böse Blut abfließen konnte. Wenn er nicht gesund wurde, zog man den messerscharfen Schluss, dass noch mehr Blut abgelassen werden müsse.
schreibt NutzerIn alterschwede
Eine Verschärfung der klassischen Handelssanktionen wurde vor sechs Monaten diskutiert, als zuletzt die Entscheidung über die Verlängerung anstand. Wie auch jetzt wieder. Damals hatte Putin die freie Schifffahrt durch die Meerenge von Kertsch ins Asowsche Meer unterbrochen, also den Zugang zu den ostukrainischen Häfen blockiert und ukrainische Schiffe beschlagnahmt, ein weiterer schwerer Bruch internationaler Abkommen. Folglich kam niemand eine Lockerung in den Sinn. Nach sechs Monaten schon wieder vergessen?
Fortschritte hat die Diplomatie auch heute nicht zu vermelden, weder bei der Krim noch im Minsker Friedensprozess für die Ostukraine. Warum also die Sanktionen lockern? Andererseits hat sich die Lage auch nicht dramatisch verschlimmert. Russland ist nicht weiter in die Ukraine vorgerückt. Also will der Westen die Sanktionen auch nicht verschärfen. Es bleibt bei der grundsätzlichen Haltung: Russland hat schweren Völkerrechtsbruch begangen. Die Sanktionen sind mehr Ausdruck des prinzipiellen Protests als ein Werkzeug, um die reumütige Umkehr Putins mit hoher Erfolgsaussicht zu erzwingen.
Wie lange noch? Sehr lange!
Wie lange kann das so weitergehen? Sehr lange. Wirtschaftssanktionen sind ein Instrument, das erst über große Zeiträume Wirkung zeigt. In Südafrika dauert es 27 Jahre von den ersten Sanktionen 1963, bis das Apartheid-System endete. In Libyen vergingen 20 Sanktionsjahre, ehe Gadhafi die Verantwortung für das Lockerbie-Attentat anerkannte und Opfer entschädigte. Im Iran zehn Jahre, bis die Mullahs in Verhandlungen über einen Stop des Atomprogramms einwilligten.
Die gewaltfreie Überwindung schlimmer Rechtsbrüche braucht Zeit. In Mitteleuropa vergingen 50 Jahre, bis die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts korrigiert waren. Die Sowjetunion forderte nach der Annexion der baltischen Staaten die Herausgabe von deren Goldreserven, die in London lagerten. Großbritannien verweigerte das. Erst 1991 war das Baltikum wieder frei. So betrachtet: Ist die Zeit nach fünf Jahren Russland-Sanktionen schon reif, um ihre Wirkung abschließend zu beurteilen?